Kapitel 5

Kapitel 5

Meine Vorgeschichte mit „Das verlorene Paradies“

Nachdem wir im letzten Kapitel gelernt haben, wie „Das verlorene Paradies“ entstand, möchte ich in diesem Beitrag aus dem Nähkästchen plaudern und euch erzählen, wie das Epos von John Milton auf der Liste meiner persönlichen Leselebensziele landete. Bevor wir zu meiner umfangreichen Rezension übergehen, erwartet euch damit noch einmal ein kurzes Kapitel. Warum wurde „Das verlorene Paradies“ zu einem meiner Drehtür-Bücher, das ich immer wieder zu lesen versuchte und daran scheiterte? Und wie kam es dazu, dass ich es 2023 endlich aus der Drehtür befreite?

Die Vorgeschichte: Leselebensziel und Drehtür-Buch

Schuld an meiner Faszination mit „Das verlorene Paradies“ ist Christoph Marzi. In seiner „Uralte Metropole“-Reihe begegneten mir das Gedichtepos und sein Schöpfer zum ersten Mal. Ich liebe die Reihe. Besonders der erste Band „Lycidas“ (Funfact: Es gibt ein frühes Gedicht von John Milton, das denselben Titel trägt.) zählt zu meinen Herzensbüchern und mit der jungen Heldin Emily verbindet mich eine sehr intensive Nähe. Als ich „Lycidas“ von Marzi das erste Mal las, war ich vermutlich etwa genauso alt wie sie. Seitdem habe ich das Buch und die Folgebände wieder und wieder gelesen. Wann immer ich dieses kleine Extra an Liebe, Wärme und Vertrautheit in meinem Leben brauche, greife ich zu „Lycidas“.

Cover des Buches "Lycidas" von Christoph Marzi

Einer der Gründe dafür, dass mir die „Uralte Metropole“-Reihe so gut gefällt, ist die Darstellung von Luzifer als missverstandener, gefallener Engel. Sie entspricht meinen Annahmen über die Figur des Teufels haargenau. Marzi macht dabei sehr deutlich, dass John Milton und „Das verlorene Paradies“ die Inspiration für diese Charakterisierung waren. In „Lycidas“ liest die zu diesem Zeitpunkt etwa 12-jährige Emily „Das verlorene Paradies“ sogar. Diese beiden Faktoren – der ambivalente Luzifer und Emilys Lektüre – überzeugten mich, dass ich es auch lesen wollte. Also besorgte ich mir irgendwann (vermutlich war ich etwa 20 Jahre alt) eine Ausgabe und stürzte mich Hals über Kopf, ohne irgendeine Vorbereitung, in das Buch.

Es war ein Desaster. Ich wusste nicht, dass es sich um ein Gedichtepos in Blankversen handelt. Zudem hatte mir Christoph Marzi einen Bärendienst erwiesen, indem er mir vermittelte, ein junges Mädchen im Alter von 12 Jahren könne dieses Buch ohne Weiteres lesen. Er hatte in mir die Erwartungshaltung geweckt, dass ich – wie Emily – keine Probleme mit „Das verlorene Paradies“ haben würde. Nun, die hatte ich. Ich hatte so gewaltige Probleme mit der Lektüre, dass ich aufgab und es unbeendet zurück ins Regal stellte.

Da stand es dann. Viele Jahre. Im Laufe der Zeit wurde es zu einem Drehtür-Buch: Ich zog ich es immer mal wieder hervor, nur, um festzustellen, dass ich nicht bereit dafür war, und stellte es wieder zurück ins Regal. Dennoch war ich weiterhin fest entschlossen, es eines Tages doch noch zu lesen. „Das verlorene Paradies“ schob sich langsam, aber unaufhaltsam an die Spitze meiner persönlichen „Lesen, bevor ich sterbe“-Liste. Oh, es schüchterte mich ein. Und wie es mich einschüchterte. Ich schleppte meine negativen Erfahrungen mit dem Epos mit mir herum, sie lähmten mich und führten dazu, dass ich mental Reißaus nahm und schreiend wegrannte, wenn mir der Gedanke kam, es vielleicht mal wieder zu versuchen.

Bücher, die es auf die Liste meiner Leselebensziele schaffen, mutieren in meinem Kopf häufig, bis sie größer werden, als sie eigentlich sind. Im Frühling 2023 war ich so daran gewöhnt, Angst vor „Das verlorene Paradies“ zu haben, dass ich gar nicht mehr wirklich in Betracht zog, es zu lesen. Es war ein abstraktes Ziel, bei dem ich nicht mehr realistisch damit rechnete, es tatsächlich eines Tages zu erreichen. Ich musste erst an meinen Ehrgeiz erinnert werden. Ich musste daran erinnert werden, dass ich es schaffen wollte und gute Gründe dafür hatte.

Diese Erinnerung erhielt ich im April 2023, anlässlich einer Montagsfrage, für die teilnehmende Buchblogger_innen buchige Lebensziele aufzählen sollten. Natürlich fiel mir sofort „Das verlorene Paradies“ ein und ich schrieb darüber, welche Hürden das Epos für mich bereithielt und wie ich in der Vergangenheit daran gescheitert war.

Ich überraschte mich selbst, denn scheinbar hatte der Gedanke an die Lektüre stärker in meinem Unterbewusstsein gearbeitet, als ich bemerkt hatte. Ich konnte eingestehen, dass ich „Das verlorene Paradies“ nicht wie eine normale Lektüre behandeln konnte und präsentierte meinen Leser_innen einen fertigen Schlachtplan, eine Lesestrategie, die ich nie bewusst zusammengestellt hatte, von der ich nicht mal wusste, dass sie bereits in meinem Kopf existierte.

Cover meiner Anaconda-Ausgabe von 'Das verlorene Paradies' von John Milton, die ich am Anfang meiner Vorgeschichte mit dem Epos kaufte

Plötzlich wusste ich, wie ich das Gedicht angehen musste und der alte Kitzel war wieder da. Ich wollte mich nicht kleinkriegen lassen, ich wollte mir selbst beweisen, dass ich John Miltons über 10.000 Blankversen gewachsen war und ich wollte herausfinden, inwiefern Miltons Luzifer als Inspiration für so viele popkulturelle Interpretationen des Teufels diente. Schluss mit dem Drücken, Schluss mit der völlig irrationalen Angst vor dem Buch. Ich begann die Lektüre am 23. April 2023 – passenderweise am Welttag des Buches.

Ausblick

Im nächsten Kapitel erwartet euch der Höhepunkt des Blogprojekts: Ich bespreche „Das verlorene Paradies“ von John Milton. Wie es sich für so ein monumentales Epos gehört, werde ich detailliert schildern, wie mein Schlachtplan für die Lektüre aussah, welche Erfahrungen ich mit meinen Maßnahmen und dem Werk selbst gemacht habe und werde euch einige inhaltliche Interpretationsansätze vorstellen. Schaut wieder vorbei, wenn ihr wissen wollt, wie es ist, ein über 350 Jahre altes episches Gedicht in mehr als 10.000 Blankversen zu lesen!

Bildquellen

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