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«Das verlorene Paradies» von John Milton
Rezension
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Ist euch aufgefallen, dass zwischen den Unmengen historischer Fakten und meiner persönlichen Anekdote in den letzten Kapiteln dieses Blogprojekts ein Elefant im Raum steht, den ich noch nicht adressiert habe? Wir wissen jetzt, in welcher Epoche John Milton lebte, wie sein Leben aussah, welche Glaubenssätze er verfolgte und wie „Das verlorene Paradies“ entstand. Ich habe euch auch erzählt, wie ich eigentlich zu dem Epos kam. Was wir allerdings noch nicht besprochen haben, ist die Frage, warum John Milton „Das verlorene Paradies“ schrieb.
Vielleicht dachtet ihr, ich hätte diese Frage schon beantwortet. Schließlich habe ich geschildert, dass es John Miltons höchste künstlerische Ambition war, ein Epos zu verfassen und sich seine Geschichte des Sündenfalls, an der er ohnehin arbeitete, einfach gut dafür eignete. Das erklärt jedoch nicht, warum diese Geschichte und warum zu dieser Zeit in seinem Leben. Was faszinierte Milton an der biblischen Erzählung? Weshalb nutzte er sie für sich? Es ist die alte Frage, die Geißel jedes Deutschunterrichts: Was wollte Milton damit aussagen?
Ich möchte versuchen, eine Antwort zu finden und diese mit meiner Rezension von „Das verlorene Paradies“ zu verbinden. Ja, wir haben uns bis zum Höhepunkt dieser Beitragsreihe vorgearbeitet. Herzlichen Glückwunsch! Nun werde ich endlich berichten, wie es war, „Das verlorene Paradies“ zu lesen, ob es meine Erwartungen erfüllte und gleichzeitig Interpretationsansätze vorstellen, die zum Teil von Expert_innen stammen, zum Teil aber auch von mir selbst.
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Ist euch aufgefallen, dass zwischen den Unmengen historischer Fakten und meiner persönlichen Anekdote in den letzten Kapiteln dieses Blogprojekts ein Elefant im Raum steht, den ich noch nicht adressiert habe? Wir wissen jetzt, in welcher Epoche John Milton lebte, wie sein Leben aussah, welche Glaubenssätze er verfolgte und wie „Das verlorene Paradies“ entstand. Ich habe euch auch erzählt, wie ich eigentlich zu dem Epos kam. Was wir allerdings noch nicht besprochen haben, ist die Frage, warum John Milton „Das verlorene Paradies“ schrieb.
Vielleicht dachtet ihr, ich hätte diese Frage schon beantwortet. Schließlich habe ich geschildert, dass es John Miltons höchste künstlerische Ambition war, ein Epos zu verfassen und sich seine Geschichte des Sündenfalls, an der er ohnehin arbeitete, einfach gut dafür eignete. Das erklärt jedoch nicht, warum diese Geschichte und warum zu dieser Zeit in seinem Leben. Was faszinierte Milton an der biblischen Erzählung? Weshalb nutzte er sie für sich? Es ist die alte Frage, die Geißel jedes Deutschunterrichts: Was wollte Milton damit aussagen?
Ich möchte versuchen, eine Antwort zu finden und diese mit meiner Rezension von „Das verlorene Paradies“ zu verbinden. Ja, wir haben uns bis zum Höhepunkt dieser Beitragsreihe vorgearbeitet. Herzlichen Glückwunsch! Nun werde ich endlich berichten, wie es war, „Das verlorene Paradies“ zu lesen, ob es meine Erwartungen erfüllte und gleichzeitig Interpretationsansätze vorstellen, die zum Teil von Expert_innen stammen, zum Teil aber auch von mir selbst.
Bibliografische Angaben
Titel: „Das verlorene Paradies“
OT: „Paradise Lost“
Autor_in: John Milton
Format: Hardcover
Seitenzahl: 315 Seiten
Verlag: Anaconda
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3866472943
Genre: Klassiker
Ausgelesen: 29.05.2023
Bewertung: ★★★★☆
Mein Schlachtplan für „Das verlorene Paradies“
Wie bereits erwähnt habe ich „Das verlorene Paradies“ nicht wie eine normale, durchschnittliche Lektüre behandelt. Ich brauchte eine Strategie. Hätte ich versucht, das Epos genauso zu lesen, wie ich sonst Fantasy, Thriller oder sogar Non-Fiction lese, wäre ich erneut gescheitert. Deshalb habe ich Maßnahmen eingesetzt, die mir dabei geholfen haben, das lange Gedicht sinnvoll in meinen Lesealltag zu integrieren. Zuerst habe ich bewusst entschieden, nicht nur „Das verlorene Paradies“ zu lesen. Ich befürchtete, wäre ich gezwungen, mich ausschließlich mit John Miltons Meisterwerk zu beschäftigen, würde das meine Leseerfahrung möglicherweise negativ beeinflussen. Also habe ich entgegen meinen üblichen Gewohnheiten beschlossen, es parallel zu meiner regulären Unterhaltungsliteratur durchzuarbeiten.
Zudem war mir klar, dass es sich nicht als Unterwegslektüre eignet, die ich mal eben für ein paar Stationen in den öffentlichen Verkehrsmitteln aufschlagen und abrupt wieder schließen konnte. Ich brauchte Ruhe und Zeit dafür, musste mich mental voll auf das Epos konzentrieren können. Ich musste mir selbst Räume für die Lektüre schaffen, in denen ich mich ausschließlich mit Miltons Gedicht befassen konnte. Gleichzeitig brauchte ich aber auch eine gewisse Verbindlichkeit, eine Art verpflichtender Verabredung mit dem Buch, die verhindern sollte, dass ich die Lektüre aus Bequemlichkeit aufschob.
Die Lösung war ein fester, konstanter Zeitplan. Ich nahm mir vor, pro Woche einen Gesang zu lesen. Ein Gesang umfasst in der deutschen Übersetzung im Schnitt ca. 30 Seiten – mir erschien dieses Ziel realistisch. Unter der Woche wären 30 Seiten vermutlich dennoch eine unüberwindbare Hürde gewesen, daher beschloss ich, nur am Wochenende in „Das verlorene Paradies“ zu lesen. Ob Samstag oder Sonntag ließ ich hingegen offen.
Eine meine größten Sorgen bestand darin, dass ich das Epos lesen könnte, ohne den Inhalt wirklich zu reflektieren. Ich wollte es nicht inhalieren und sofort wieder vergessen, sondern mich wahrhaft damit auseinandersetzen. Darüber hinaus wollte ich unbedingt verhindern, dass bestimmte Details, Entwicklungen und Zusammenhänge über den langen Zeitraum der Lektüre – laut meinem Zeitplan sollte sie ja 12 Wochen dauern – in meinem Gedächtnis verblassten.
Ich dachte an meine Schulzeit zurück und erinnerte mich daran, dass wir für „Macbeth“ von Shakespeare ein Lesetagebuch angefertigt hatten. Damals stöhnte ich über die Notwendigkeit, jede Szene kurz in eigenen Worten zusammenzufassen und meine Gedanken festzuhalten. Rückblickend kann ich aber nicht leugnen, dass ein Lesetagebuch ein sehr mächtiges, produktives Werkzeug ist, um eine Lektüre wirklich zu erfassen. Für „Das verlorene Paradies“ erschien es mir ideal. Also legte ich mir ein digitales Notizbuch an und gelobte, nach jedem Gesang kurz innezuhalten und aufzuschreiben, was ich gelesen hatte und welche Resonanz dieser Abschnitt in mir auslöste.
Haben meine Maßnahmen funktioniert?
Bewaffnet mit diesem Maßnahmenarsenal begann ich „Das verlorene Paradies“. Jede einzelne war erfolgreich und sinnvoll, auch wenn die Umsetzung in der Realität etwas anders ausfiel, als ich geplant hatte. Ich war schneller, als ich mir vorgenommen hatte. Statt einem Gesang pro Woche las ich meistens zwei und war dementsprechend bereits nach fünf Wochen und einem Tag am 29. Mai 2023 fertig. Das lag nicht daran, dass ich meinen eigenen Plan übertrumpfen wollte. Es wäre völlig in Ordnung gewesen, wenn ich wirklich 12 Wochen gebraucht hätte. Nein, es lag daran, dass ich während der Lektüre das Gefühl entwickelte, dass John Milton seine Gesänge inhaltlich in Paaren aufbaute.
An sich ist jeder Gesang in sich geschlossen, wie wir es von Kapiteln in anderen Büchern kennen. Trotzdem glaube ich ein Muster erkannt zu haben, nach dem zwei Gesänge zusammen immer lose einen inhaltlichen Abschnitt behandeln. Dadurch war es für mich sogar einfacher, zwei Gesänge statt nur einen zu lesen, weil ich meine Pausen an logischen Punkten machen konnte. Ich wurde nicht jedes Mal mitten aus der Geschichte gerissen und fand den Wiedereinstieg in der nächsten Woche leichter sowie schneller. Notizen habe ich dennoch zu jedem Gesang verfasst.
Neunte Seite des Originalmanuskripts von „Das verlorene Paradies“
John Milton, Paradise Lost Manuscript 10, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Im Vorlauf zu dieser Rezension habe ich mehrfach erwähnt, dass „Das verlorene Paradies“ aus über 10.000 Blankversen besteht. Der Blankvers zählt zu den traditionellen Versformen und ist ein jambischer Fünfheber. Wenn ihr damit nichts anfangen könnt – nicht schlimm, das wichtigste Merkmal des Blankverses ist im Kontext von „Das verlorene Paradies“ ohnehin die Tatsache, dass er ungereimt ist. Ganz genau, das bedeutet, dass sich dieses über 300 Seiten lange Gedicht von John Milton nicht ein einziges Mal (absichtlich) reimt.
Ich bin eingangs davon ausgegangen, dass mir das die Lektüre erschweren würde, weil ich dachte, dass ich Probleme haben würde, in einen Rhythmus zu finden. Das war nicht der Fall. Ganz im Gegenteil, ich hatte sogar das Gefühl, dass das Epos dadurch zugänglicher ist, weil es sich eher wie eine Geschichte liest. Eine durchstilisierte, künstlerische und teils recht pathetische Geschichte zwar, aber dennoch eine Geschichte. Der Blankvers ließ John Milton mehr Freiheiten sich auszudrücken, er musste nicht auf Teufel komm raus Reime konstruieren. Das Versmaß sorgte dennoch dafür, dass sich für mich ein konstanter, harmonischer Rhythmus beim Lesen aufbaute, der in meinem Kopf fast eine Melodie erzeugte.
Ich muss allerdings zugeben, dass ich den einzelnen Versen von „Das verlorene Paradies“ wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe. Das war eine bewusste Entscheidung, eine Priorisierung. Mir war während der Lektüre wichtig, dass ich die Geschichte verstehe. Es war mir nicht wichtig, John Miltons handwerkliches Geschick zu bezeugen. Mein Anspruch war nie, eine Gedichtanalyse des Epos anfertigen zu können. Ich wollte nicht über Miltons Wortwahl grübeln oder seine Stilmittel demaskieren. Ich möchte die Schönheit von Miltons Versen nicht anzweifeln, doch in meiner Wahrnehmung war sie eher ein netter Nebeneffekt, den ich registrierte, ohne ihn weiter zu hinterfragen.
Für mich hat das gut funktioniert, weil ich dank meiner Priorisierung irgendwann lernte, zu durchschauen, welche Versgruppen für die Handlung tatsächlich relevant sind und welche lediglich schmückende Beschreibungen darstellen. Dadurch konnte ich mit meinen mentalen Kapazitäten entsprechend haushalten. Erkannte ich beispielsweise, dass ich gerade mitten in einer ausufernden Schwärmerei über die landschaftliche Vollkommenheit des Garten Eden steckte, entspannte ich mich beim Lesen etwas und war weniger aufmerksam. Befand ich mich hingegen in einem Dialog zwischen Gott und seinem Sohn, war ich voll konzentriert und hörte fokussiert zu, was sie besprachen. Jedes Wort von Milton mag formvollendet sein – doch nicht jedes Wort ist entscheidend für die Geschichte, die er erzählt.
Miltons tyrannischer Gott: Ein verkleideter Stuart?
Die Geschichte, die er erzählt, ist, wie bereits kurz zusammengefasst, eine Adaption der biblischen Narrative über den Fall Luzifers, die Erschaffung der Menschheit durch Gott, den Sündenfall und die Verbannung der Menschen aus dem Garten Eden. Ich möchte euch an dieser Stelle davor warnen, dass die folgenden Abschnitte dieser Rezension Spoiler enthalten werden. Für eine fundierte Analyse, Interpretation und Einordnung meiner Eindrücke lässt sich das leider nicht vermeiden. Solltet ihr unter allen Umständen vermeiden wollen, etwas über die Handlung des Epos zu erfahren, solltet ihr dieses Kapitel des Blogprojekts ab jetzt aussetzen und erst für mein Fazit im nächsten Kapitel zurückkommen.
Eine der größten Überraschungen während der Lektüre von „Das verlorene Paradies“ war für mich die Kausalität der einzelnen Erzählungen. Bisher habe ich sie immer als losgelöste Episoden betrachtet. John Milton setzt sie hingegen in einen eindeutigen Zusammenhang: Gott erschafft die Welt und die Menschen, um zu beweisen, dass Luzifers Rebellion wirkungs- und aussichtslos war; Luzifer verführt Eva, um sich an Gott zu rächen und seine neuste Schöpfung zu verderben; Gott sieht voraus, was passieren wird und etabliert das Konzept der Erlösung, um Luzifers Plan letztendlich doch zu vereiteln.
Ich habe nie zuvor in Betracht gezogen, dass es sich um eine große Geschichte von Aktion und Reaktion handeln könnte – muss dazu aber sagen, dass ich die Bibel nicht gelesen habe und dementsprechend nicht weiß, ob dies lediglich Miltons Interpretation war oder bereits so überliefert ist. Aus meiner Sicht ist Miltons Kausalkette auf jeden Fall plausibel – obwohl sie eine Figur in einem meiner Meinung nach verblüffend negativen Licht erscheinen lässt.
The Judgment of Adam and Eve: „So Judged He Man“ (Die Verurteilung von Adam und Eva: „So Richtete Er die Menschheit“): Illustration von William Blake von 1808
Art by William Blake, ParadiseLButts10, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Ich war irritiert davon, wie wenig ich Miltons Gott mochte und wie eindeutig diese allwissende Entität in meiner Wahrnehmung die Ursache jedes Übels in „Das verlorene Paradies“ ist. Ich fand Gott willkürlich, nachtragend, kleinlich, heuchlerisch, kontrollierend, machtmissbrauchend und irgendwie … unsicher? Miltons Gott sehnt sich ständig nach Bestätigung und möchte freiwillig verehrt werden, postuliert jedoch Bedingungen, die diese Freiwilligkeit mindestens in Frage stellen, wenn nicht gar ad absurdum führen. Er lässt Adam und Eva ausrichten, dass die Menschen frei entscheiden können, ob sie ihm gehorchen, doch wenn sie es nicht tun, droht ihnen die Verdammnis.
Allein die Tatsache, dass er die Menschheit nur erschuf, um Luzifer nach dessen Rebellion eins auszuwischen, ist aus meiner Sicht ein Armutszeugnis. Wirklich? Gott, das mächtigste Wesen im ganzen Universum, muss etwas beweisen? Das ist schwach. Bei mir hinterließ Miltons Charakterisierung von Gott den Nachgeschmack eines Tyrannen. Das hatte ich nicht erwartet und meine Irritation wuchs, als ich im Laufe meiner Recherchen herausfand, dass John Milton ein sehr gläubiger, gottesfürchtiger Mann war. Wie passt es zusammen, dass jemand, der ohne jeden Zweifel ein überzeugter Protestant war, ein so negatives Bild von Gott zeichnete?
Es scheint naheliegend, John Miltons Darstellung von Gott mit seiner Ablehnung der Monarchie zu erklären. Immer wieder wird in allen möglichen Quellen darauf hingewiesen, dass Milton in „Das verlorene Paradies“ das Scheitern der englischen Republik verarbeitete und seiner Enttäuschung sowie Verbitterung darüber Ausdruck verlieh. Heißt das im Umkehrschluss, seine Gottesfigur steht stellvertretend für die englischen Könige aus der Linie Stuart, Charles I. und Charles II, und zeigt deshalb tyrannische Tendenzen?
The Judgment of Adam and Eve: „So Judged He Man“ (Die Verurteilung von Adam und Eva: „So Richtete Er die Menschheit“): Illustration von William Blake von 1808
Art by William Blake, ParadiseLButts10, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Verfolgen wir diesen Ansatz weiter, liegt es ebenfalls nahe, dass Milton mit Luzifers misslungener Rebellion im Himmel sympathisierte, weil er darin ein Sinnbild für die zerfallene englische Republik sah. Tatsächlich deutet Milton in „Das verlorene Paradies“ Verständnis für Luzifer an. Es handelt sich um eine schöne, kohärente Theorie. Ich schätze sie dennoch als ungültig ein und, soweit ich es überblicken konnte, die meisten Expert_innen auch.
Nach allem, was ich über John Milton gelernt habe, halte ich es für völlig undenkbar, dass seine Gottesfigur in „Das verlorene Paradies“ stellvertretend für die Stuart-Könige steht. Ich kann mir das nicht vorstellen. Sein Gottvertrauen war immens; selbst nach dem Zerfall der englischen Republik bewahrte er sich seinen Glauben und zweifelte nie an der Macht Gottes. Niemals hätte er auch nur angedeutet, dass er Gott in Frage stellte. Gott als Symbolfigur für die Repräsentanten der Monarchie zu einzusetzen, die er so vehement ablehnte, wäre für ihn wahrscheinlich ein Ausdruck von Blasphemie gewesen. Es erscheint mir komplett abwegig, dass er Göttliches und Weltliches auf diese Art und Weise vermischte.
Porträtgemälde von Charles I. von Anthony van Dyck von 1636
Anthony van Dyck creator QS:P170,Q150679 , Anthony van Dyck (1599-1641) - Charles I (1600-1649) - RCIN 404398 - Royal Collection, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Er sah die Monarchie nicht als gottgewollt und bestritt das Gottesgnadentum öffentlich. Hätte er Charles I. und Charles II. in „Das verlorene Paradies“ mit Gott gleichgesetzt, hätte er ihnen eine Autorität zugeschrieben, die weder mit seinen religiösen noch politischen Glaubenssätzen vereinbar war. Gemäß den vier Soli war er überzeugt, dass allein Gott das Recht hat, über die Menschen zu herrschen und zu richten.
Der Experte John Leonard geht davon aus, dass „Das verlorene Paradies“ genau diesen Grundsatz unterstreicht. Miltons Gottesfigur ist kein verkleideter Stuart, sondern betont, dass die Stuarts eben keinen legitimen Herrschaftsanspruch haben, weil Gott der einzige ist, dem dieser zusteht.
Doch wenn seine Gottesfigur kein Sinnbild für die Monarchen ist, die er als tyrannisch empfand, wieso habe ich Gott in „Das verlorene Paradies“ dennoch als tyrannisch wahrgenommen?
Ich glaube, in diesem Punkt trennen John Milton und mich sowohl die Jahrhunderte als auch der Glaube. John Milton glaubte an Gott, seine Macht und seine selbstverständliche Autorität über die Menschen. Ich denke, dass er glaubte, dass es Gott zustand, sich so zu verhalten, wie er es in „Das verlorene Paradies“ beschrieb. Meiner Meinung nach war dieser Gott für ihn kein Tyrann, sondern die allerhöchste Entität des Universums, deren Entscheidungen und Benehmen allein schon durch ihre Existenz und ihren unumstrittenen Herrschaftsanspruch gerechtfertigt sind. Milton vertraute in Gottes inhärente Güte, seiner Überzeugung nach stand es Menschen einfach nicht zu, diese zu hinterfragen. Ich teile seinen Glauben nicht, also neige ich dazu, seine Gottesfigur deutlich kritischer zu beurteilen.
Zudem hat sich das gesellschaftliche, aber auch das religiöse Weltbild seit dem 17. Jahrhundert verändert. Wir sind heute viel stärker darauf sensibilisiert, Machtgefälle und toxisches Verhalten zu erkennen. Unser Begriff von Freiheit hat eine andere Bedeutung als noch zu John Miltons Lebzeiten und auch das Konzept des freien Willens wird heute anders bewertet.
Obwohl es sicher noch Konfessionen gibt, die Miltons Gottesdarstellung bedenkenlos akzeptieren würden, existieren mittlerweile auch andere Ansichten, die von einem sanfteren Gott ausgehen, der sich viel weniger einmischt, als es in „Das verlorene Paradies“ der Fall ist. Deshalb vermute ich, dass John Miltons Gottesfigur auch ein Produkt der historischen Epoche ist, in der der Dichter lebte. Wie immer ist Kontext unverzichtbar, um dieses über 350 Jahre alte Epos korrekt einzuordnen.
Ist „Das verlorene Paradies“ frauenfeindlich?
Das zeigt sich auch in dem Frauenbild, das John Milton durch seine Charakterisierung von Eva vermittelt. Ich gebe zu, es war schwer zu ertragen. „Das verlorene Paradies“ strotzt vor diskriminierenden, herabwürdigenden Äußerungen über die erste Frau. Eva unterwirft sich Adam, wird mehr als einmal als seine „Dienerin“ bezeichnet und als Adam sich gegenüber dem Erzengel Raphael darüber beschwert, wie groß der Einfluss von Evas Schönheit auf ihn ist und er sie permanent begehrt, obwohl sie ja viel weniger wert ist als er, dachte ich wirklich, mir würde vor Wut gleich Rauch aus den Ohren quellen.
Satan Watching the Endearments of Adam and Eve (Satan beobachtet die Zärtlichkeiten von Adam und Eva): Illustration von William Blake von 1808
Art by William Blake, But536.1.4.wc.100, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Aufgrund solcher Passagen wurde „Das verlorene Paradies“ traditionell häufig als misogyn interpretiert und John Milton unterstellt, dass er sein (angeblich) schwieriges Verhältnis zu Frauen an seiner Figur der Eva ausließ. Mittlerweile haben sich jedoch auch andere, nachsichtigere Interpretationsansätze entwickelt, die meinem Empfinden nach nicht von der Hand zu weisen sind.
Trotz der vielen unangenehmen und sicher tendenziell frauenfeindlichen Aussagen, die „Das verlorene Paradies“ aufweist, überraschte es mich während der Lektüre, wie selbstbestimmt und eigenständig John Milton Eva porträtierte. Vor allem eine Szene des neunten Gesangs, die Evas Verführung durch Luzifer vorausgeht, verblüffte mich enorm. In dieser ist es wieder einmal ein wundervoller Morgen im Garten Eden und Adam und Eva bereiten sich darauf vor, ihr Tageswerk anzugehen. Sie wurden von Gott damit beauftragt, den Garten zu pflegen und sich um die Pflanzen zu kümmern.
Eva möchte die Gartenarbeit an diesem Tag aber nicht gemeinsam mit Adam erledigen. Sie argumentiert, dass so viel zu tun ist, sie sich gegenseitig nur ablenken und es deshalb effektiver wäre, getrennt voneinander zu arbeiten. Ich möchte dazu erwähnen, dass ich den Eindruck hatte, dass Evas praktische Gründe nur vorgeschoben sind. Ich hatte das Gefühl, dass sie einfach allein sein möchte, was ich sehr gut nachvollziehen kann, wenn man bedenkt, dass sie bisher jeden Tag ihrer Existenz ununterbrochen in Adams Gesellschaft verbrachte. Schon dieser Wunsch passt nicht so ganz zu dem sehr unterwürfigen, anhimmelnden Bild, das John Milton ansonsten von ihr zeichnete.
Adam ist von Evas Vorschlag nicht begeistert; er hält eine Arbeitsteilung für unnötig, denn schließlich wollte Gott, dass sie Spaß haben, und richtete es so ein, dass sie die Pflanzen allein im Zaum halten können, bis sie Nachkommen gezeugt haben. John Milton ließ keinen Zweifel daran aufkommen, welchen „Spaß“ Adam an dieser Stelle meint.
Satan Watching the Endearments of Adam and Eve (Satan beobachtet die Zärtlichkeiten von Adam und Eva): Illustration von William Blake von 1808
Art by William Blake, But536.1.4.wc.100, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Das war ein weiterer Punkt, den ich erstaunlich fand: Milton schrieb in „Das verlorene Paradies“ sehr offen über die sexuelle Ebene von Adams und Evas Beziehung. Von einem Gedichtepos des 17. Jahrhunderts hatte ich nicht erwartet, Sex so eindeutig zu thematisieren. Um zu erklären, wieso John Milton damit keinen Skandal provozierte, müssen wir verstehen, dass Adams und Evas körperliche Liebe zu keinem Zeitpunkt in „Das verlorene Paradies“ als Sünde gilt, nicht einmal, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben.
Miltons Auffassung nach waren sie ein in Liebe verbundenes Ehepaar, auch ohne offizielle Eheschließung, die ja sowieso mehr eine kirchliche Tradition ist, welche Milton gemäß „Sola scriptura“ als unnötig erachtete. Er war davon überzeugt, dass Gott Sex zwischen liebenden Eheleuten gutheißt und es sich demnach nicht um sündiges Verhalten handelt. Darüber hinaus sind Adam und Eva vor dem Sündenfall ohnehin unschuldig, frei von jeder Form der Verderbnis. Keine ihrer Handlungen bis zum Verzehr des Apfels kann dementsprechend ein Ausdruck von Gotteslästerung sein, weil ihnen jeglicher negativer Antrieb fehlt.
The Archangel Raphael with Adam and Eve (Der Erzengel Raphael mit Adam und Eva): Illustration von William Blake von 1808
Art by William Blake, ParadiseLButts6, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Dennoch fand ich es interessant, dass John Milton beinahe augenzwinkernd andeutet, dass zumindest Adam durchaus Freude an Sex hat und Eva sehr begehrt. Am Ende des achten Gesangs wird er nämlich vom Erzengel Raphael daran erinnert, dass sie besser als Tiere sind und daher nicht nur aus Spaß miteinander schlafen, sondern sich fortpflanzen sollen. Hätte Adam keine entsprechenden Tendenzen gezeigt, hätte er diese Erinnerung wohl nicht gebraucht. 😉 In dieser Hinsicht ist „Das verlorene Paradies“ wesentlich fortschrittlicher und weniger prüde, als ich angenommen hatte.
Obwohl Adam also lieber weiterhin Zeit mit Eva verbringen möchte und wahrscheinlich darauf hoffte, dass sich während der Gartenarbeit ein kleines Schäferstündchen ergibt, stimmt er zu, diesen Tag getrennt zu verbringen. Allerdings hat er die Warnungen vor Luzifer, die ihnen Raphael am Abend zuvor überbrachte, noch im Ohr und macht sich Sorgen, dass Eva ein Unheil treffen könnte, wenn sie allein ist – gerechtfertigt, wie sich später herausstellt. Eva hingegen ist empört, dass Adam an ihrer Gottesfürchtigkeit zweifelt, wird sauer und weist seine Worte, die sie als Unterstellung interpretiert, vehement von sich.
Adam versucht, sie zu beruhigen und beteuert, dass es ihm nur um sie geht, weil er weiß, wie schrecklich sie unter einem Verrat an Gott leiden würde. Eva bleibt jedoch stur, erklärt, dass sie nicht in ständiger Furcht leben können und ihre Gottestreue ohnehin nur dann etwas wert ist, wenn sie auf die Probe gestellt wird und trotzdem Bestand hat. Sie setzt sich durch und die beiden vereinbaren, sich am Mittag wiederzutreffen.
Hättet ihr Eva zugetraut, sich so willensstark zu verhalten, nicht nachzugeben und Adam selbstbewusst zu widersprechen? Ich nicht. Schlussendlich führt Evas Sturheit natürlich dazu, dass Luzifer sie verführen kann, denn das gelingt ihm nur, weil er sie allein antrifft. Man kann also argumentieren, dass Evas selbstbestimmte Entscheidung die Wurzel der Verbannung der Menschheit aus dem Garten Eden ist und sich in dieser Kausalkette die subtile Botschaft verbirgt, dass es besser ist, wenn Frauen eben keine selbstbestimmten Entscheidungen treffen.
Ich halte es für möglich, dass John Milton genau diese Botschaft vermitteln wollte. Allerdings glaube ich nicht, dass es sich dabei um den Ausdruck seiner Verbitterung über seine negativen Erfahrungen mit Frauen handelte, sondern lediglich um eine Reproduktion des vorherrschenden Frauenbildes des 17. Jahrhunderts. Ich konnte trotz meiner Recherchen keine Passagen finden, die etwas anderes nahelegen. Stattdessen finde ich es bemerkenswert, dass er Eva überhaupt ein gewisses Maß an Selbstbestimmung zugestand.
Er hätte Eva durchaus als völlig naives, hilfloses Dummchen porträtieren können, die Adam komplett hörig und nicht fähig ist, eigene Entscheidungen zu treffen. In diesem Kontext wäre der Sündenfall nicht die Folge ihres bewussten Handelns, sondern ein Unfall, an dem sie keinen direkten Anteil hätte, weil sie quasi schuldunfähig wäre. Dass er Eva eigene Bedürfnisse und Kontrolle über ihr Handeln zuschrieb, erschien mir realistischer, als ich es von „Das verlorene Paradies“ angenommen hatte.
The Temptation and Fall of Eve (Versuchung und Fall von Eva): Illustration von William Blake von 1808
William Blake artist QS:P170,Q41513
Details on Google Art Project, William Blake - The Temptation and Fall of Eve (Illustration to Milton's "Paradise Lost") - Google Art Project, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Ich will damit nicht sagen, dass das Epos feministische Züge hätte, nein, auf keinen Fall. Die latente Frauenfeindlichkeit des 17. Jahrhunderts, die es widerspiegelt, lässt sich nicht wegdiskutieren. Aber John Milton charakterisierte Eva nicht nur als leere Hülle, sondern als vollwertiges menschliches Wesen, und das ist mehr, als ich ihm zugetraut hatte. Er ließ sie ihre Schuld in vollem Umfang besitzen und erkannte ihre Verantwortung an.
Darüber hinaus habe ich Eva auch nicht als Sündenbock wahrgenommen. Ja, sie qualifiziert sich natürlich als Auslöser für die Verbannung, doch ich fand, dass John Milton in „Das verlorene Paradies“ eine beeindruckend differenzierte Analyse des Sündenfalls vornahm. Eva ist nicht die einzig Schuldige. Zwischen den Zeilen steht nicht „Frauen sind die Wurzel allen Übels und an allem schuld“. Vielmehr beschrieb Milton den Ausschluss der Menschheit aus dem Garten Eden als das Ergebnis einer Verkettung mehrerer Faktoren, auf die Eva überwiegend keinen Einfluss hatte.
Er arbeitete sehr nachvollziehbar heraus, dass der Sündenfall eine Konsequenz des Konflikts zwischen Gott und Luzifer darstellt, in den Adam und Eva unglücklich verwickelt wurden. Sie sind keine Opfer, weil auch sie aktiv dazu beitragen, dass es so weit kommt, doch sie – vor allem Eva – sind eben nicht allein verantwortlich für das, was geschieht.
Der englische Literaturkritiker William Empson sah das ähnlich und postulierte, dass die Schuld vielmehr bei Gott zu suchen ist, weil dieser als omnipotente und omnipräsente Entität wusste, was passieren würde und es nicht verhinderte. Er unterstellte Miltons Gott sogar, dass er den Sündenfall bewusst forciert. Emotional neige ich dazu, diese These zu unterstützen, weil sie sich mit meiner Wahrnehmung von Miltons Gottesfigur deckt. Aus den bereits erläuterten Gründen bin ich rational jedoch sehr skeptisch, ob Milton eine solch boshafte, kalt berechnende Darstellung von Gott tatsächlich angestrebt hätte. Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen.
The Temptation and Fall of Eve (Versuchung und Fall von Eva): Illustration von William Blake von 1808
William Blake artist QS:P170,Q41513
Details on Google Art Project, William Blake - The Temptation and Fall of Eve (Illustration to Milton's "Paradise Lost") - Google Art Project, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Die unterschiedlichen Interpretationsansätze zeigen meiner Meinung nach allerdings deutlich, wie facettenreich John Milton „Das verlorene Paradies“ gestaltete. Das Epos ist nicht schwarz-weiß, sondern bespielt viele Grautöne. Vor diesem Hintergrund wäre es fatal, Milton als misogyn zu verurteilen, weil dieser Vorwurf viele feine Nuancen des Gedichts sträflich ignoriert.
Luzifer: Die Schlüsselfigur in „Das verlorene Paradies“
Alle Aspekte von „Das verlorene Paradies“, die ich bis hierhin besprochen habe, beschäftigen die Literaturwissenschaft seit Ewigkeiten. Das Epos wurde über die Jahrhunderte zum Gegenstand zahlloser Analysen sowie Interpretationen und diente unzählige Male als Inspirationsquelle für spätere Autor_innen, Musiker_innen und andere Kunstschaffende. Das anhaltende Interesse an John Miltons Gedicht bis in die Moderne ist meines Erachtens jedoch auf die Schlüsselfigur der biblischen Geschichte zurückzuführen: Satan aka Luzifer.
Milton war einer der Ersten, die den Teufel nicht als abgrundtief böse beschrieben, sondern als ambivalent. Sein Luzifer ist an erster Stelle ein gefallener Engel, ein gescheiterter radikaler Revolutionär, der versucht, mit seiner Niederlage zurechtzukommen. Es dürfte keine Überraschung sein, dass viele darin ein Spiegelbild Miltons eigener Erfahrungen im Kontext der englischen Republik sehen. Es wird angenommen, dass er mit Luzifer sympathisierte und auch ich habe während der Lektüre ein gewisses Verständnis für dessen Situation wahrgenommen. Es wäre jedoch zu viel des Guten, Milton zu unterstellen, sich mit „Das verlorene Paradies“ auf die Seite des Teufels gegen Gott geschlagen zu haben.
Obwohl John Milton detailliert ausführte, wie es zur Rebellion im Himmel kam und Luzifers Zorn sowie Enttäuschung in einen nachvollziehbaren Kontext setzte, ließ er nie Zweifel daran aufkommen, dass er dessen Plan, die Menschheit aus Rache in die Verdammnis zu führen, kategorisch verurteilte. Zudem ist es meiner Meinung nach fraglich, ob er die Rebellion selbst als gerechtfertigt sah. Deshalb vertrete ich eher die Auffassung, dass John Milton für die Charakterisierung von Luzifer in „Das verlorene Paradies“ und dessen emotionales Profil zwar auf seine eigenen Erlebnisse und Gefühle im Rahmen des Zerfalls der englischen Republik zurückgriff und dieser dementsprechend weit mehr als der stereotype Bösewicht ist.
Entscheidend ist meiner Ansicht aber, dass Luzifer letztendlich in allen Punkten verliert. Weder ist seine Rebellion erfolgreich noch gelingt es ihm, Gottes Schöpfung für alle Zeiten zu verderben, weil Gott als Reaktion darauf die Erlösung erfindet und sowohl Luzifer als auch seine Anhänger hart für den Versuch bestraft. Luzifer hat das Nachsehen. Er mag ein Teufel sein, mit dem sich Leser_innen identifizieren können – der Teufel bleibt er dennoch und für John Milton war es als gläubiger Christ völlig undenkbar, ihn Gott vorzuziehen.
Für mich war John Miltons mehr oder weniger stark ausgeprägte Sympathie für Luzifer während der Lektüre von „Das verlorene Paradies“ darüber hinaus kein Thema, das mich nachhaltig beschäftigte. Viel interessanter fand ich das Verhältnis zwischen Luzifer und Gott, weil ich glaube, darin ein Motiv erkannt zu haben, das sich in verschiedenen Facetten durch das gesamte Epos zieht: Vater-Sohn-Beziehungen.
Es verwundert mich, dass ich keine Analyse oder Interpretation von „Das verlorene Paradies“ gefunden habe, die dieses Motiv aufgreift, da es für mich völlig offensichtlich ist, dass es für Milton eine essenzielle Rolle in der Konzeption seines Epos spielte. Das heißt nicht, dass es keine entsprechenden Analysen und Interpretationen gibt, aber ich habe keine ausgraben können. Darum müsst ihr nun leider mit meiner amateurhaften Einschätzung vorliebnehmen.
Der Patriarch und die drei Brüder: Vater-Sohn-Beziehungen in „Das verlorene Paradies“
The Creation of Eve (Die Erschaffung von Eva): Illustration von William Blake von 1808
Art by William Blake, ParadiseLButts8, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Die meisten Figuren in „Das verlorene Paradies“ sind männlich konnotiert. Man kann bei der Armee der Engel, die Gott unterstehen, sicher darüber streiten, ob Teile dieser nicht auch weiblich, non-binär oder sogar geschlechtslos gelesen werden könnten, ich halte es jedoch für unwahrscheinlich. Demnach ist Eva die einzige Figur des Epos, die eindeutig nicht männlich ist. Das Schlumpfine-Prinzip lässt grüßen.
Des Weiteren müssen alle Figuren, inklusive Eva, stets im Kontext ihrer Beziehung zu Gott betrachtet werden, denn sie existieren nur, weil Gott sie geschaffen hat. Gott ist im wahrsten Sinne des Wortes der Allvater, um mal einen Begriff aus einer anderen religiösen Mythologie zu bemühen.
Daraus ergibt sich eine schier unmöglich zu ermittelnde Zahl von metaphorischen Vater-Sohn-Beziehungen innerhalb des Epos. Die wichtigsten sind meinem Empfinden nach die Beziehung zwischen Gott und Luzifer, die Beziehung zwischen Gott und Adam sowie die Beziehung zwischen Gott und dessen Sohn, der später als Mensch zur Erde fahren und Jesus Christus heißen wird.
Der Einfachheit halber spreche ich über ihn im Folgenden als „Jesus“, obwohl das eigentlich nicht ganz korrekt ist. Beschränken wir uns auf diesen kleinen Kreis, sehen wir, dass John Milton eine sehr spannende Familiendynamik entwickelte.
Luzifer rebelliert im Himmel, weil Gott Jesus erschafft und seinen Engel befiehlt, ihm in jeder Hinsicht denselben Gehorsam entgegenzubringen wie ihm selbst. Jesus soll über die Engel herrschen, die bisher keine Autorität außer Gott kannten. Hier zeigt sich übrigens sehr deutlich, dass John Milton nicht an die klassische Dreifaltigkeit glaubte: Er beschrieb, dass Jesus von Gott geschaffen wurde und ihm untergeordnet ist. Luzifer ist damit nicht einverstanden, er ist neidisch auf Jesus, fühlt sich zurückgesetzt und entehrt. Deshalb begehrt er auf, schart etwa ein Drittel der himmlischen Engel um sich und zieht gegen Gott, dessen Getreue und Jesus in den Krieg. Wie wir wissen, verliert er diesen.
Illustration des sechsten Gesangs von Gustave Doré von 1866: Michael verbannt die rebellischen Engel aus dem Himmel
Gustave Doré artist QS:P170,Q6682, Paradise Lost 1, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Interessant daran ist, dass Gott den Aufstand jederzeit hätte niederschlagen können (Erinnert euch: allmächtig und allwissend), sich aber drei Tage Zeit lässt, bevor er Jesus dazu auffordert, den Spuk zu beenden. Er offenbart im Anschluss, dass seine Motivation darin bestand, Jesus die Möglichkeit zu geben, seine Macht zu demonstrieren und seinen Herrschaftsanspruch zu festigen. Im Grunde haben wir es in „Das verlorene Paradies“ also mit einer (einseitigen) Rivalität zwischen zwei Brüdern zu tun, die von ihrem eigenen Vater initiiert und gezielt eskaliert wird.
Luzifer ist der Archetyp des Erstgeborenen, der sich um sein Recht betrogen sieht, gegenüber seinem jüngeren Bruder den Kürzeren zieht und dadurch zum sprichwörtlichen schwarzen Schaf wird. Jesus hingegen ist der folgsame, perfekte Sohn, der vom Patriarchen der Familie darauf vorbereitet wird, als dessen Stellvertreter zu agieren.
Ebenso faszinierend ist in diesem Zusammenhang, dass Gott als Patriarch weder Luzifer noch Jesus als seinen Erben betrachtet. Nein, diese Ehre obliegt Adam, dem jüngsten Sohn. Er ist derjenige, der die Erde von Gott als Geschenk überreicht bekommt und sie mit seinen Nachkommen bevölkern soll. Die Schöpfung der Erde und Adams sind wiederum eine Reaktion Gottes auf Luzifers Rebellion, denn damit wollte er seinem Ältesten beweisen, dass dieser mit seinem Ungehorsam nichts erreichte.
Es genügte Gott nicht, ihn und seine Anhänger aus dem Himmel zu werfen, sie neun Tage fallen zu lassen und in die Hölle zu verbannen. Er musste noch einen draufsetzen und Luzifer seine Niederlage richtig unter die Nase reiben. Statt familiäre Versöhnung anzustreben oder es zumindest gut sein zu lassen, hält Gott es für nötig, seinen Erstgeborenen vorzuführen, obwohl er weiß, was er damit auslösen wird. Gottes sprichwörtliche Güte kann ich darin nicht erkennen. Sein Verhalten ist sehr alttestamentarisch.
Illustration des sechsten Gesangs von Gustave Doré von 1866: Michael verbannt die rebellischen Engel aus dem Himmel
Gustave Doré artist QS:P170,Q6682, Paradise Lost 1, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Wir könnten diesen Interpretationsansatz noch deutlich weiter nachverfolgen und zum Beispiel analysieren, wie freiwillig Jesus entscheidet, eines Tages im Namen seines Vaters unvorstellbares Leid zu ertragen und für die Sünden der Menschen am Kreuz zu sterben. Aber ich glaube, mein Punkt ist deutlich geworden. Bleibt noch die Frage, warum John Milton das Vater-Sohn-Motiv in „Das verlorene Paradies“ behandelte und was er damit erreichen wollte.
Warum das Vater-Sohn-Motiv so wichtig ist
Es scheint naheliegend, zuerst einen Blick in die Biografie des Autors zu werfen. Ich weiß leider nicht, wie die Beziehung zwischen John Milton und seinem eigenen Vater aussah. Die Quellen schweigen sich darüber aus, ob sie ein positives oder schwieriges Verhältnis hatten. Anhand der Informationen, die ich sammeln konnte, vermute ich aber, dass sie gut miteinander auskamen. Es gibt keine Hinweise auf anhaltende Konflikte oder Streitigkeiten. Milton lebte bis 1638 mit Unterbrechungen immer wieder bei seinen Eltern. Als seine Mutter starb, kümmerte er sich darum, dass sein Vater versorgt war, bevor er seine Grand Tour antrat. Er wurde neben seinem Vater beerdigt.
Hätte es einen Bruch in ihrer Beziehung gegeben, hätte seine Biografie diesen wahrscheinlich zumindest angedeutet. Ebenso deutet nichts darauf hin, dass John Milton die Beziehung zu seinen Geschwistern als Inspiration für „Das verlorene Paradies“ nutzte, denn in seiner Familie war die Konstellation völlig anders als in seinem Epos: Er hatte eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder.
Ich glaube dementsprechend nicht, dass John Milton in „Das verlorene Paradies“ seine persönlichen Erfahrungen mit seiner Familie verarbeitete. Ich halte es hingegen für möglich, dass die Beziehung zwischen seinem Vater und seinem Großvater Einfluss auf das Gedicht hatte. Miltons Vater wurde ja von seinem erzkatholischen Großvater enterbt, weil er mit dem Protestantismus sympathisierte. Es wäre übertrieben, in dem Epos eine passgenaue Adaption dieses Konflikts zu suchen, der sich noch vor Miltons Geburt zutrug, doch Miltons Entscheidung, das Motiv der Vater-Sohn-Beziehung aufzunehmen, könnte er durchaus beeinflusst haben.
Wenn es Milton also nicht darum ging, seine eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten, wieso dann diese Fixierung auf das schwierige Verhältnis zwischen dem Sohn Luzifer und dem Vater Gott, das ich erkannt zu haben glaube? Ich denke, John Milton versuchte tatsächlich, in „Das verlorene Paradies“ seine Erfahrungen mit der englischen Republik zu reflektieren – allerdings anders, als es oft vermutet wurde.
Illustration des sechsten Gesangs von Gustave Doré von 1866: Satan windet sich in Schmerzen
Gustave Doré creator QS:P170,Q6682, Paradise Lost 25, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Nach der Restauration der Monarchie wurden die meisten Personen, die an der Etablierung der Republik mitwirkten, zwar vergleichsweise milde behandelt, es bestand öffentlich jedoch kein Zweifel daran, dass sie im besten Fall naive Idealisten, im schlimmsten Fall gefährliche Hochverräter waren. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass John Milton, der bis zum Ende an die Staatsform glaubte, sich mehr Verständnis für diejenigen wünschte, die aus seiner Sicht eine bessere Welt erschaffen wollten.
Ich denke daher, „Das verlorene Paradies“ diente als Image-Kampagne. Indem John Milton Luzifer in „Das verlorene Paradies“ als enttäuschten, zornigen Sohn eines übermächtigen Vaters charakterisierte, gab er seinen Leser_innen die Möglichkeit, sich mit ihm zu identifizieren, sich in ihn hineinzuversetzen und seine Handlungen nachzuvollziehen. Er generierte Verständnis für den gescheiterten Rebellen, weil er ihn in einer Situation beschrieb, die für viele bekannt oder zumindest vorstellbar ist.
Innerfamiliäre Streitigkeiten und Rivalitäten sind gesellschaftlich unglaublich weit verbreitet, keine Familie ist perfekt, und das Gefühl von Enttäuschung sowie Demütigung, das Luzifer empfindet, konnten und können vermutlich die meisten Leser_innen verstehen. Dennoch stellte Milton nicht in Frage, dass Luzifer scheitern musste, dass seine Niederlagen gerecht sind. Dadurch versetzte er seine Leser_innen wiederum in die angenehme Lage, sich ihrer Sympathie für Luzifer nicht schämen zu müssen. Er beschwor ein Szenario, in dem es in Ordnung ist, Verständnis für Luzifer zu entwickeln, weil seine Taten trotzdem verurteilt werden.
Indirekt forderte John Milton seine Leser_innen des 17. Jahrhunderts auf diese Weise auf, sich in ihn und diejenigen hineinzuversetzen, die die englische Republik gegründet hatten. Wenn Leser_innen Verständnis für den Teufel aufbringen konnten, konnten sie auch Verständnis für die Revolutionäre aufbringen, die Charles I. im Namen einer besseren Zukunft hinrichteten. Er stritt nicht ab, dass ihr Scheitern vielleicht gerechtfertigt war und deutete dennoch an, dass die Gründe für ihr Handeln komplex waren.
Luzifers Wunsch nach Emanzipation, seine Ablehnung einer eingesetzten Führungsperson (Jesus), seine Sehnsucht, aus dem Schatten der Pläne seines Vaters herauszutreten und sein Schicksal selbst zu gestalten, weisen deutliche Parallelen zu den Visionen auf, die John Milton Zeit seines Lebens engagiert unterstützte. Ich glaube, er verteidigte die Republik mit „Das verlorene Paradies“ nicht, auch wenn er es vielleicht gern getan hätte, denn das konnte er sich im vorherrschenden politischen Klima nach der Restauration der Monarchie nicht erlauben. Das Epos ist weder Entschuldigung noch Rechtfertigung. Ich glaube, stattdessen wollte er für mehr Nachsicht gegenüber den Revolutionären werben und erklären, was sie bewog, als sie sich gegen die Monarchie stellten.
Meiner Meinung nach zeigt sich genau hier John Miltons Brillanz als Schriftsteller und Dichter. Sein differenziertes emotionales und psychologisches Porträt von Luzifer in „Das verlorene Paradies“ war zu seiner Zeit einzigartig. Es gelang ihm, seinen Leser_innen den klassischsten aller Antagonisten, den Teufel, auf einer Ebene zugänglich vorzustellen, die ihnen Sympathie und Mitgefühl erlaubte. Er inszenierte Luzifer als Identifikationsfigur, ohne seine Taten jemals zu rechtfertigen.
Aus meiner Sicht liegt darin auch der Schlüssel zu Miltons nuancierter Aufarbeitung des Sündenfalls, die keine gradlinigen Schuldzuweisungen zulässt. Vor allem im Kontext des 17. Jahrhunderts, in dem der christliche Glaube häufig zum Streitthema mutierte, ist das mehr als nur beeindruckend. Es ist meisterhaft. Meiner Meinung nach ist das der Grund, warum Miltons Luzifer und „Das verlorene Paradies“ die Jahrhunderte überdauerten und so großen Einfluss auf die Popkultur hatten. Mit seiner verständnisvollen, einfühlsamen Darstellung des Teufels legte er den Grundstein für Bücher wie „Lycidas“ von Christoph Marzi, die Serie „Lucifer“ und Bands wie „Paradise Lost“. Er zeigte Satan von seiner menschlichen Seite.
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