Yann Martel – Schiffbruch mit Tiger
„Schiffbruch mit Tiger“ ist sicher vielen meiner LeserInnen bekannt, zumindest als filmische Adaption „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger“ von 2012. Der Film wurde hoch gelobt und bekam eine Menge Auszeichnungen und Nominierungen; unter anderem erhielt er den Oscar für die beste Regie, die beste Kamera, die besten visuellen Effekte und die beste Filmmusik. Wenn ich mich recht erinnere, war es auch diese Oscar – Verleihung, bei der ich zum ersten Mal von diesem Film hörte, denn ich schaue mir den Event jedes Jahr an (alle haben eben so ihre Leichen im Keller). Damals war ich noch nicht völlig überzeugt von der Idee der Geschichte; ich konnte mir kaum vorstellen, dass es spannend oder interessant sein könnte, einem jungen Inder dabei zuzusehen, wie er schiffbrüchig auf offener See mit einem Tiger im Rettungsboot überlebt. Ich habe mich getäuscht. Nachdem ich den Film angeschaut habe, fand ich nicht einen einzigen Superlativ, der meine Begeisterung adäquat ausgedrückt hätte. Die Entscheidung, die Roman – Vorlage von Yann Martel lesen zu wollen, traf ich dementsprechend sehr schnell.
Die Handlung von „Schiffbruch mit Tiger“ ist leicht zusammengefasst, denn eigentlich ist schon der deutsche Titel extrem aussagekräftig: es ist die Geschichte des Inders Piscine „Pi“ Molitor Patel, der sich nach einem schweren Schiffsunglück in einem Rettungsboot wiederfindet. Allein. Mit dem Tiger Richard Parker. Es ist die Geschichte seiner unfassbaren, 227 Tage andauernden Reise; seines Überlebens mitten auf dem pazifischen Ozean; wie er der rauen See, dem launischen Wetter, Durst, Hunger, Kälte und einem ausgewachsenen bengalischen Tiger trotze, nur mit seinem Glauben und seinem Lebenswillen ausgestattet.
Ich befinde mich nach der Lektüre von „Schiffbruch mit Tiger“ in der gleichen Situation, in der ich mich auch nach dem Film befand: ich suche einen passenden Superlativ und finde einfach keinen, der wirklich angemessen wäre. Dieses Buch ist bezaubernd, es ist magisch, es ist das sanfte Schwappen der Wellen auf einem Ozean. Es ist hypnotisch, es ist Liebe. Liebe für schlicht und ergreifend alles: die Welt, das Leben, den Glauben, Gott, für jedes Lebewesen und jedes Wort. Manche LeserInnen mögen meine Vergleiche und Metaphern vielleicht kitschig finden, doch ich übertreibe nicht, wenn ich bekenne, dass ich keine andere Möglichkeit sehe, über diesen Roman zu schreiben. Franz Kafka sagte einmal „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“; „Schiffbruch mit Tiger“ hat diese Mission in mir voll erfüllt.
Yann Martel erzählt Pis Geschichte sensibel, atemberaubend, betörend und leidenschaftlich. Dabei liefert er den LeserInnen eine sehr intime Innenansicht seines Protagonisten, seiner Gedanken – und Gefühlswelt, die der Film aus offensichtlichen Gründen nicht bieten kann. Das ganze Buch über beherrschte mich das Gefühl, gemeinsam mit Pi in dieser kleinen Nussschale von einem Boot zu sitzen, seine Verzweiflung und auch seine Freude zu teilen. Der Autor erreichte diesen Effekt meines Erachtens nach vor allem durch seinen Schreibstil; es ist diese zauberhafte Mischung aus Ruhe, wunderschönen Bildern und Metaphern und grandiosem Witz, die mich nicht mehr losließ.
„Schiffbruch mit Tiger“ ist natürlich auch ein Buch, das intensiv zum Nachdenken anregt, weshalb ich es auch in die Kategorie „Philosophie“ einordne. Da Martel seinen LeserInnen zwei verschiedene Versionen von Pis Geschichte präsentiert, kann man für sich selbst entscheiden, welche Variante man glauben möchte. Es kommt nicht darauf an, welche Geschichte wahr ist; rein der Glaube ist bestimmend. Mich erinnerte diese Herangehensweise an das Erzählte stark an mein Lieblingszitat aus dem Film „Alice im Wunderland“ von 2010:
„Manchmal denke ich bereits vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge“
Etwas, das uns unmöglich oder unglaublich erscheint, kann trotzdem wahr sein. Wir selbst bestimmen die Grenzen unseres Denkens und unserer Fantasie.
Bevor ich nun noch weiter ins Schwärmen gerate, möchte ich diese Rezension mit einer von Herzen kommenden Empfehlung abschließen. Ich würde gern schreiben, dass dieses Buch für jede/n etwas ist, doch das ist leider nicht korrekt. Ich vermute, dass sehr rationale LeserInnen mit „Schiffbruch mit Tiger“ nichts anfangen können, denn es erfordert ein gewisses Vertrauen in den Glauben und die Fantasie. Man muss sich vorstellen können, dass eine 227 Tage lange Reise mit einem Tiger in einem kleinen Rettungsboot möglich ist; nicht eine Sekunde darf man an Pis Geschichte zweifeln, um sie genießen zu können. Die Schönheit dieses Romans liegt nicht in seiner Logik oder Kohärenz, sie liegt darin, dass Pis Überleben ein Wunder ist. Und Wunder muss man nicht erklären oder analysieren.
Den Film kannte ich ja schon und eigentlich hatte ich auch nicht vor, das Buch dazu zu lesen. Ich dachte, es könnte mir langweilig werden, nachdem ich ja die Handlung schon kannte. Wie man sich doch irren kann! Ich hab es an zwei Tagen ausgelesen und selten hat mich ein Buch so berührt wie dieses. Es hat viele Saiten in mir angeschlagen und über vieles davon werde ich noch längere Zeit nachdenken müssen. Ich lese wirklich viel, aber es passierte mir nur sehr selten bisher, dass mich ein Buch so ergriffen zurück gelassen hat – davon werde ich 100%ig noch lange gefangen sein. Danke für die Anregung, „Schiffbruch mit Tiger“ zu lesen!
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