Tom Wolfe – Ich bin Charlotte Simmons

Cover des Buches "Ich bin Charlotte Simmons" von Tom Wolfe

Autor_in: Tom Wolfe

Format: Taschenbuch

Seitenzahl: 960 Seiten

Verlag: Heyne

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3453405064

Genre: Realistische Fiktion

Ausgelesen: 07.04.2014

Bewertung: ★★★☆☆

Der US-amerikanische Autor Tom Wolfe ist eher für seine zahlreichen Reportagen und Essays bekannt als für seine Romane. Das ist nicht verwunderlich, gehört er doch zu den Mitbegründern des New Journalism der 60er Jahre, neben so schillernden Persönlichkeiten wie Norman Mailer und Hunter S. Thompson. Wolfe hat in seiner literarischen Laufbahn bis heute nur vier Romane verfasst; „Ich bin Charlotte Simmons“ stellt hierbei das dritte rein fiktionale Werk dar und erschien 2004.

Der Roman ist die Geschichte eines jungen Mädchens vom Lande, das sich in der ordinären, vulgären Welt der weltberühmten (und fiktionalen) Dupont Universität in Pennsylvania zu behaupten versucht. Charlotte erlebt einen Kulturschock allererster Güte, muss sie doch feststellen, dass sie mit ihren christlichen Werten wie Enthaltsamkeit ziemlich allein dasteht. Während ihrer Bemühungen, sich in einem für sie akzeptablen Maße zu integrieren, umwerben sie drei äußerst verschiedene junge Männer: Hoyt Thorpe, der vermutlich coolste Student auf dem ganzen Campus; Adam Gellin, der sich als intellektuelle Speerspitze der Universität versteht und der Basketballstar Joseph „JoJo“ J. Johanssen. Charlotte muss sich entscheiden, doch ihre Wahl fällt auf den Falschen, was die junge Frau in eine tiefe Depression stürzt. Kann Charlotte in den Scherben ihres Ichs einen letzten Rest Kampfeswillen auftreiben, um in Dupont endlich ihren Platz zu finden?

Tom Wolfe bemüht sich um eine sehr detaillierte Erzählweise und gibt den Ereignissen im Leben der Charlotte Simmons und ihren Verehrern viel Raum, um sich zu entwickeln. Dabei entstand eine meines Erachtens nach realistische Schilderung des amerikanischen Universitätslebens, allerdings kann ich als deutsche Studentin natürlich nur ein begrenztes Urteil abgeben.

Besser abschätzen lässt sich für mich die Denkweise moderner Jugendlicher an der Schwelle zu Erwachsenen; diesbezüglich war ich zutiefst beeindruckt von Wolfes Einfühlungsvermögen, denn die Darstellung der „Was kostet die Welt?“ – Einstellung selbiger gelang dem 1931 geborenen Autor hervorragend. Für seine Figuren konnte mir Tom Wolfe kein konkretes visuelles Bild vermitteln, in meiner Vorstellung blieben diese äußerlich verschwommen. Überraschenderweise störte mich dies allerdings überhaupt nicht, da meine bildliche Vorstellung von einem sehr greifbaren Gefühl für sie ersetzt wurde und ich mich trotzdem in sie hineinversetzen konnte.

Die Identifikation mit Charlotte fiel mir am schwersten, was vermutlich daran liegt, dass mein eigener Charakter sich von ihrem so massiv unterscheidet. In meinen Augen empfindet Charlotte oft paradox. Einerseits ist sie selbstgerecht und arrogant, sie bildet sich unglaublich viel auf ihren Intellekt ein und fühlt sich prinzipiell allen anderen überlegen. Andererseits ist ihr durchaus bewusst, dass sie aufgrund ihrer Erziehung altmodisch und verklemmt ist und möchte unbedingt dazugehören. Sie ist besessen von der Meinung anderer über sie und ist trotz ihres Selbstbewusstseins hinsichtlich ihrer Intelligenz nicht in der Lage, mutig die Unterschiede zu anderen StudentInnen auszuleben. Während ihrer Depression empfand ich sie als unerträglich, da sie in dieser Zeit paranoid auf mich wirkte und sie sich im Selbstmitleid suhlte. Die Eigenschaft, die sie meiner Meinung nach am deutlichsten auszeichnet, ist ihre Unfähigkeit zu entscheiden, was sie eigentlich will. Dadurch ist sie nie zufrieden, nicht einmal am Ende des Buches.

Die jungen Männer in Charlottes Leben sind in all ihrer Unterschiedlichkeit brillant gezeichnet. Ihre Charaktere sind so deutlich ausgearbeitet, dass Wolfes LeserInnen schon weit vor Charlotte wissen, welcher die falsche Wahl sein wird, die ihr das Leben schwer macht. Erstaunlich sind auch die Parallelen zwischen Hoyt und Adam, die, obwohl sie völlig verschiedene Ansprüche und Motive haben, beide unverbesserliche Aufschneider sind. Für mich stach JoJo leuchtend heraus, da er auf seine ganz eigene Weise kindlich naiv und unschuldig ist und darüber hinaus tiefe Einblicke in das System des amerikanischen Hochschulsports bietet. Er ist der einzige, der Charlotte nicht zu beeindrucken versuchte und dafür liebte ich ihn.

Zusätzlich sei noch gesagt, dass Wolfe auch den vielen Neben- und Randfiguren seiner Geschichte liebevoll Leben und Charakter eingehaucht hat. Ich möchte interessierte LeserInnen bitten, besonders mit Camille Geduld zu haben, denn keine andere Figur spricht so schöne Beleidigungen aus wie sie.

Tom Wolfe hat mich mit „Ich bin Charlotte Simmons“ definitiv von seinem Können überzeugt; dieses Einzelwerk funktionierte für mich als Annährung an den Autor sehr gut. Charlottes Geschichte ist eine eindringliche, bissige Schilderung der Zustände an US-amerikanischen (Elite-) Universitäten, in der sich amerikanische Studenten sicherlich wiederfinden können. Mir gefiel die Lektüre gut, allerdings hindert mich meine persönliche Distanz zu Charlotte an einer besseren Bewertung des Buches. Die 3 – Sterne – Bewertung darf folglich nicht als Kritik am Autor und seinem Werk aufgefasst werden, sondern als Ausdruck meines Befremdens bezüglich der Protagonistin.

Ich denke, Tom Wolfes Roman ist vor allem etwas für LeserInnen, die selbst studieren und für bereits der Pubertät Entwachsene, die sich noch einmal an jugendliches Denken zurück erinnern möchten, mit all seiner Oberflächlichkeit, Lebenslust und Verunsicherung.

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