Jodi Picoult – Die Macht des Zweifels

Cover des Buches "Die Macht des Zweifels" von Jodi Picoult

Autor_in: Jodi Picoult

Format: Taschenbuch

Seitenzahl: 432 Seiten

Verlag: Piper

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3492263151

Genre: Realistische Fiktion

Ausgelesen: 05.03.2014

Bewertung: ★★★★☆

Es gibt Autoren, von denen man als Leser bereits im Voraus weiß, was man erwarten kann. Das kann sowohl gut als auch schlecht sein. Die positiven Fälle enden bei mir schnell damit, dass ich mir Stück für Stück alle Werke des Autors oder der Autorin zulege. Jodi Picoult ist so ein Fall. Ich begann mit ihrem 2009 verfilmten Drama „Beim Leben meiner Schwester“, das sicher viele kennen. Von diesem Buch war ich so begeistert und berührt, dass ich mir drei weitere Romane aus ihrer Feder besorgte. Ich wurde von keinem der Bücher enttäuscht.

„Die Macht des Zweifels“ war nun vorerst der letzte noch ungelesene Jodi Picoult – Roman, der in meinem Regal zu finden ist. In diesem begleitet der Leser die erfolgreiche Staatsanwältin Nina Frost, die zwar ein stressiges, aber glückliches Leben mit ihrem Mann Caleb und ihrem 5 – jährigen Sohn Nathaniel führt. Doch eines Tages verliert Nathaniel von heute auf morgen die Fähigkeit zu sprechen. Nina und Caleb klappern mit ihrem Sohn verschiedene Ärzte ab, bis sich bei einer Psychologin herausstellt, dass das Undenkbare geschehen ist: Nathaniel wurde sexuell missbraucht. Nina ist außer sich; ist sie als Staatsanwältin doch auf die Verurteilung von Sexualstraftätern spezialisiert und weiß um die (Un-)Möglichkeiten des Rechtssystems. Zwischen der Suche nach dem Täter und dem Ringen mit einem unzulänglichen System steht Nina nun nicht mehr als Vertreterin des Staates, sondern als verzweifelte Mutter, die sich die Frage stellen muss, was sie bereit ist zu tun, um ihren kleinen Sohn zu schützen.

Jodi Picoult hat die unglaubliche Fähigkeit, den Leser bereits mit dem ersten Satz in ihre Geschichten hineinzusaugen und ihn/sie nicht mehr loszulassen, bis diese zu Ende erzählt ist. Die Handlung von „Die Macht des Zweifels“ ist von der ersten Sekunde an spannend und fesselnd, weil sie so realistisch ist. Außerdem schildert Picoult die Geschehnisse mit einer beeindruckenden Autorität, so dass ich nie auch nur auf die Idee kam, die Abläufe in Frage zu stellen. Dies wird dadurch unterstützt, dass sie kontroverse Themen generell nie eindimensional betrachtet, sondern sich immer bemüht, alle Seiten ausgewogen zu beleuchten. Sie zeigt die vielen Graustufen einer Welt, die wir allzu gern leichter Hand in schwarz und weiß einteilen möchten.

In meinem Fall führte das während der Lektüre von „Die Macht des Zweifels“ dazu, dass ich mich oft selbst dabei erwischte, mich zu fragen, wie ich gehandelt hätte, wäre ich in die gleiche Situation geraten wie Nina. Ich betrachtete die Handlung des Buches nie distanziert; war nie nur Zaungast, sondern fühlte mich in die Ereignisse eingebunden und konnte Verständnis für die Positionen und Meinungen aller Charaktere entwickeln. Darüber hinaus gefiel es mir (wieder einmal) sehr gut, dass Picoult wahre Freude an Perspektivwechseln zu haben scheint, die nicht nur die Charaktere betreffen, sondern auch die Herangehensweise an eine Straftat wie den sexuellen Missbrauch Minderjähriger. Leser_innen erfahren sowohl wie so ein Fall von der Polizei betrachtet wird – welche Vorschriften beispielsweise einzuhalten sind – als auch die Sichtweise des Justizsystems.

Doch auch bezüglich der Figuren bietet die Autorin ein breites Spektrum an Identifikationsmöglichkeiten an. Alle Frontdarsteller bekommen durch einen auktorialen Erzähler einen gleich hohen Stellenwert eingeräumt. Die Ausnahme bildet Nina, da sie der einzige Charakter ist, dessen Erlebniswelt aus der Perspektive eines Ich-Erzählers geschildert wird. Die Bindung an sie ist daher am intensivsten; der_die Leser_in ist aufgefordert, sich in sie hinein zu versetzen. Das ist problemlos möglich und geschieht fast automatisch; hier zeigt sich meines Erachtens nach Jodi Picoults größte Stärke: sie erschafft sensibel und einfühlsam so tiefe und runde Charaktere, dass ich das Gefühl hatte, sie könnten jederzeit zwischen den Seiten hervor springen.

Dementsprechend sind auch die dargestellten zwischenmenschlichen Beziehungen überaus real und lebendig. Die Bindung zwischen Nina und Nathaniel konnte sogar mir, die noch nicht einmal einen Kinderwunsch entwickelt hat, die Gefühle einer verzweifelten Löwin von Mutter nahe bringen. Selbst ich konnte Ninas Entscheidungen und Handlungen nachempfinden und habe mit ihr gefühlt und gelitten.

In meinen Augen liegen Leser mit einem Roman von Jodi Picoult niemals daneben, wenn sie sich sehr realistische, vielschichtige Handlungen und Charaktere wünschen, die zum Nachdenken anregen. In ihrem Schreibstil meine ich einige Parallelen zu Joyce Carol Oates erkannt zu haben; auch in ihren Werken findet sich eine erstaunliche psychologische Tiefe, wenn auch nicht die gleiche sprachliche Eleganz und Fantasie. Ich kann „Die Macht des Zweifels“ dementsprechend nur wärmstens empfehlen; persönlich habe ich bereits direkt nach der Lektüre den nächsten Roman aus Jodi Picoults Feder auf meine Wunschliste gesetzt.

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