Tennessee Williams – Endstation Sehnsucht

Cover des Buches "Endstation Sehnsucht" von Tennessee Williams

Autor_in: Tennessee Williams

Format: Taschenbuch

Seitenzahl: 150 Seiten

Verlag: Fischer

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3596271207

Genre: Klassiker

Ausgelesen: 22.12.2013

Bewertung: ★★★☆☆

„Endstation Sehnsucht“ erzählt die tragische Geschichte der ehemaligen Lehrerin Blanche DuBois, einer alternden Südstaaten-Schönheit, die durch das verschwenderische Leben ihrer Familie all ihren Besitz verliert, einschließlich der Plantage Belle Rêve. Mittellos und verzweifelt sucht sie Unterschlupf bei ihrer jüngeren Schwester Stella in New Orleans. Diese hat sich vor Jahren entschieden, das sinkende Schiff zu verlassen und ihr Glück in der Großstadt zu finden. Dort traf sie auf Stanley Kowalski, einen ehemaligen Soldaten des Zweiten Weltkriegs mit polnischer Herkunft, den sie heiratete.

Als Blanche bei ihrer Schwester eintrifft, ist sie entsetzt über die Umstände, in denen Stella lebt. Nichts deutet mehr auf ihre aristokratische Herkunft hin, Stella und Stanley hausen in einem ärmlichen Viertel in einer winzigen Wohnung mit gerade mal zwei Zimmern. Darüber hinaus kann sie sich nicht mit Stanley anfreunden, der ihrer Meinung nach primitiv und animalisch ist. Diese Abneigung beruht jedoch auf Gegenseitigkeit, Stan fühlt sich durch Blanches vornehmes, aber auch leicht gekünsteltes Verhalten permanent provoziert. Stella hingegen sitzt durch die Unstimmigkeiten zwischen ihrem Ehemann und ihrer Schwester zwischen den Stühlen. Sie versucht zu vermitteln, scheitert allerdings, da sie Stans aggressiver Art unterlegen ist und sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm befindet, das durch Sexualität und Gewalt geprägt ist.

Stan ist überaus bemüht, den Eindringling in seinem Heim wieder loszuwerden. Er erkundigt sich über Blanches Leben in ihrer Heimatstadt und findet heraus, dass Blanche ein moralisch eher verwerfliches Leben führte: wechselnde Männerbekanntschaften, die am Ende in die sexuelle Beziehung zu einem ihrer (minderjährigen) Schüler gipfelten. Dieser Vorfall kostete sie ihre Anstellung als Lehrerin.

Blanche verfolgt in New Orleans vor allem das Ziel, sich selbst noch zu retten, indem sie einen Mann heiratet, der ihr Schutz und Sicherheit bieten kann. Sie bändelt mit Stans Freund Harold „Mitch“ Mitchell an, der zwar eigentlich weit unter ihren normalen Ansprüchen steht, für Blanche jedoch den letzten Ausweg aus ihrer Misere darstellt.

Die sich entwickelnde Beziehung zwischen Mitch und Blanche erfährt einen herben Rückschlag, als Stan die Informationen, die er über Blanches Vergangenheit gesammelt hat, an Mitch weitergibt. Mitch kann nicht verstehen, wieso Blanche ihn die ganze Zeit über immer auf Abstand hielt, während sie früher ein freizügiges Leben führte. Betrunken versucht er eines Abends, Blanche zu sexuellen Handlungen zu überreden; die Situation eskaliert und Blanche wirft ihn aus dem Haus.

Erneut emotional angeschlagen zieht sich Blanche in eine Fantasiewelt zurück, die auf brutale Weise erneut mit der harten Realität in Person von Stan konfrontiert wird. Allein mit ihm in der Wohnung vergewaltigt er die Schwester seiner Ehefrau, während Stella im Krankenhaus ist und das gemeinsame Baby zur Welt bringt. Dieser Vorfall zerstört Blanche endgültig: Da ihr niemand glaubt, nicht einmal Stella, wird sie in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen.

Das Stück „Endstation Sehnsucht“ spielt Ende der 1940er Jahre, es wurde 1947 uraufgeführt. Es thematisiert den Untergang der Südstaaten-Aristokratie und deren Ablösung durch das „neue“ Amerika, personifiziert durch die Figur des Stanley Kowalski. Ich habe lange über das Stück nachgedacht und habe versucht, dessen Bedeutung für die US-amerikanische Gesellschaft und Geschichte zu erfassen.

Meiner Meinung nach hat Tennessee Williams den Zeitgeist brillant erfasst und eine wirklich beeindruckende Gesellschaftskritik geschrieben.
Man merkt von Beginn an, was für eine detaillierte und umfangreiche Vorstellung Williams von seinem Stück hatte, dies wird deutlich durch sehr exakte Bühnenanweisungen. Der Leser erhält bereits vor den Dialogen eine recht genaue Vorstellung von den Figuren und den Situationen, in denen sie sich befinden.

Die Figuren selbst sind nachvollziehbare Akteure, durch die beschriebenen Charakterzüge kann sich der Leser wunderbar erklären, wie es dazu kam, dass sie sich in den dargestellten Umständen befinden. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind natürlich geprägt von Konflikten und Oppositionen. Blanche und Stanley verkörpern deutliche Gegensätze, während Stella und Mitch zwischen den beiden gefangen und hin und her gerissen sind.

Im Mittelpunkt steht hierbei eindeutig Blanche, das Stück wird durch das Mitleid, das man für sie empfindet, getragen. Dieses ist jedoch nicht uneingeschränkt, eine volle Identifikation wird durch ihre Affektiertheit und Irrationalität verhindert. Man erkennt, dass Blanche durchaus auch Fehler hat und zum Teil selbst zu ihrem Unglück beigetragen hat. Trotzdem sind die Angriffe von Seiten Stans so brutal, gemein und egoistisch, dass man als Leser kaum anders kann, als Bedauern für sie zu empfinden. Blanche ist eine zutiefst tragische Figur, dieser Eindruck wird noch verstärkt, weil sie nicht mal von ihrer eigenen Schwester Hilfe erwarten kann.

Stella selbst war in meinen Augen der schwächste Charakter, allerdings nicht im Sinne ihrer Konstruktion durch Williams. Sie ist als schwache Frau dargestellt, die sich nicht gegen ihren gewalttätigen Ehemann auflehnen kann. Sie ist in einer durchaus leidenschaftlichen Beziehung mit Stanley gefangen, die ihr nicht gut tut. Ich bin überzeugt, dass Stella dies auch erkannt hat, doch sie ist nicht in der Lage, Konsequenzen daraus zu ziehen. Ich würde sogar so weit gehen, zu resümieren, dass sie Stanley und seiner Aggressivität komplett verfallen ist. Sie belügt sich selbst hinsichtlich seiner Natur und ist deswegen auch nicht gewillt, Blanche bezüglich der Vergewaltigungsvorwürfe zu glauben. Ihr Schicksal als hörige und abhängige Ehefrau scheint durch die Geburt von Stans Kind besiegelt.

So gesehen sind Blanches und Stellas Schicksal nicht so verschieden, wie es an der Oberfläche erscheint. Blanche wurde durch die Ereignisse in ihrer Heimat und in New Orleans gebrochen und vollständig zerstört. Stella ist ebenfalls eine gebrochene Frau, allerdings ist dieser Umstand bei ihr weniger offensichtlich. Durch die Beziehung zu ihrem Ehemann ist sie gezwungen, die Realität zu verleugnen und die Bande zu ihrer Schwester, die einst vermutlich sehr eng waren, aufzulösen. Auf die Spitze getrieben wird dies natürlich durch Blanches Einlieferung in eine psychiatrische Anstalt; Williams deutet an, dass dieser Umstand auf Stellas Initiative zurückgeht.

Dementsprechend kann man schlussfolgern, dass Blanches Einlieferung eine erzwungene symbolische Abkehr von einem wichtigen Teil von Stellas Persönlichkeit darstellt – ihrer Vergangenheit. Stellas Zukunft gehört nun völlig ihrem brutalen Ehemann Stan. Sie kann keinerlei Rettung mehr erwarten, da niemand mehr übrig ist, der die Fatalität dieser Beziehung erkennen könnte, denn all ihre Bekanntschaften und Freundinnen befinden sich in einer ähnlich prekären Lage, ohne es erfassen zu können. So fügt sich Stella in ihr Schicksal und opfert ihre Schwester für eine zerstörerische Verbindung. Stanley geht aus dem Stück als Sieger hervor: Seine Dominanz wurde gefestigt, er konnte die Bedrohung seiner Lebensumstände erfolgreich beseitigen.

Die Tatsache, dass Blanche Stellas personifizierte Vergangenheit symbolisiert, erklärt den Umstand, dass Stan die Schwester seiner Frau so umfassend ablehnt. Blanche führt ihm vor Augen, wie unterschiedlich er und Stella eigentlich sind. Er erkennt, dass er im Grunde nicht gut genug für eine junge Frau mit aristokratischen Wurzeln ist; dass er ihr nichts bieten kann und fürchtet sich vor der Möglichkeit, dass auch Stella dies realisiert.

Zu Beginn des Stücks unterhalten sich Stella und Stan darüber, dass alles Geld, das Blanche mit dem Verkauf von Belle Rêve möglicherweise erwirtschaftet hat, automatisch auch ihm zusteht, da sie verheiratet sind. Im Nachhinein wirkte das auf mich, als wollte Stan durch diese Äußerung verdeutlichen, dass Stella keinerlei Chance hat, sich von ihm zu lösen. Dahinter scheint die Angst zu stehen, dass Stella mit genügend finanziellem Rückhalt ihre Sachen packen und ihn verlassen könnte. Obwohl sie auf mich nie den Eindruck machte, als spiele sie mit diesem Gedanken, unterdrückt Stan bereits präventiv jegliche mögliche Anwandlung in diese Richtung.

Unterdrückung ist darüber hinaus eines der Stichworte, die Stan am besten beschreiben. Er führt seine Beziehung und seinen Haushalt mit strenger Hand und stellt dadurch patriarchalische Zustände her. Weder erkennt er Stellas Selbstbestimmtheit an, noch erlaubt er ihr, sich zu entwickeln. Er hält sie klein, zwingt sie in ein Abhängigkeitsverhältnis und erstickt jegliche Emanzipation ihrerseits bereits im Keim. Dazu gehört zum Beispiel, dass sie ihn um Geld bitten muss, wenn sie etwas unternehmen möchte und kein eigenes besitzt und auch, dass er Rechnungen gern selbst bezahlt. Er lässt sie keinerlei Verantwortung übernehmen und hält sie aus den organisatorischen Prozessen des Lebens heraus. Die Motivation dahinter scheint zu sein, dass Stella auf diese Weise im Fall einer Trennung nicht allein überlebensfähig wäre, was sie daran hindert, diese überhaupt in Betracht zu ziehen. Stanley ist der Gefängniswärter der Zelle, in die sich Stella selbst begeben hat. Er ist derjenige, der Stella daran hindert, sich aus ihrem selbstgewählten Schicksal zu befreien.

Zusammenfassend gefiel mir das Stück sehr gut. Es ist eine Tragödie menschlicher Charaktere, die durch unterschiedliche Ereignisse und Entscheidungen in verschiedene aussichtslose Lebensumstände getrieben wurden. Es half mir, einen bestimmten Aspekt der US-amerikanischen Gesellschaft besser zu verstehen: Den Unterschied zwischen Süd- und Nordstaaten und die daraus entstehenden Konflikte. Für die damalige Zeit hat Tennessee Williams sowohl die Gesellschaft als Ganzes wie auch das Thema Sexualität und Gewalt innerhalb von Beziehungen mutig thematisiert und kritisiert.

Trotzdem kann ich für „Endstation Sehnsucht“ nur drei Sterne vergeben, weil mich als Deutsche die Relevanz des Stücks weniger berührt als vermutlich eine_n US-Amerikaner_in. Außerdem sind für das Verständnis dieses Schauspiels gewisse historische Vorkenntnisse erforderlich. Ein Leser, der von eben diesem Unterschied zwischen den nördlichen und den südlichen Staaten der USA noch nie gehört oder gelesen hat; der die geschichtlichen Ereignisse (Stichwort Bürgerkrieg) nicht kennt, kann vermutlich nicht nachvollziehen, warum es für Blanche so schwer ist, sich in ihre neue Umgebung zu integrieren und auch ihre Verzweiflung nicht verstehen. Es ist kein Stück, das man außerhalb des Kontextes lesen kann.

Wer sich jedoch für amerikanische Geschichte interessiert und wie diese sich in der Kunst allgemein und der Literatur im Speziellen widerspiegelt, dem kann ich dieses Stück nur ans Herz legen. Wie bereits beschrieben, es ist eine brillante Gesellschaftskritik, die den Zeitgeist der späten 1940er Jahre hervorragend erfasst.

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