Robert Harris – Vaterland

Cover des Buches "Vaterland" von Robert Harris

Autor_in: Robert Harris

Format: Taschenbuch

Seitenzahl: 377 Seiten

Verlag: Heyne

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3453074661

Genre: Historische Fiktion > Dystopie

Ausgelesen: 23.03.2018

Bewertung: ★★★★☆

Robert Harris‘ Debüt „Vaterland“ blickt auf eine bewegte Veröffentlichungsgeschichte zurück. Von den internationalen Verlagen wurde es Harris 1992 nahezu aus den Händen gerissen. In Deutschland war die Reaktion hingegen verhalten, vorsichtig ausgedrückt. Niemand wollte das Werk veröffentlichen. Daher erschien „Vaterland“ erst in der Schweiz, bevor sich Heyne ein Herz fasste und den umstrittenen Stoff ins Programm aufnahm. Die Kritik folgte prompt. „Deutschfeindlich“ sei das Buch, „frivol“. 1994 wurden englischsprachige Ausgaben von der hamburgischen Staatsanwaltschaft beschlagnahmt. Warum die Hysterie? Vor 26 Jahren traf „Vaterland“ die Deutschen an ihrer empfindlichsten Stelle, denn Robert Harris stellt darin eine (damals) zutiefst verpönte Frage: was wäre, wenn? Was wäre, wenn die Nazis den Krieg gewonnen hätten?

Berlin, 14. April 1964: in den frühen Morgenstunden wird am Ufer der Havel eine Leiche entdeckt. Mordfahnder Xaver März wird an den Tatort gerufen und übernimmt den Fall. Keine 24 Stunden später ist die Leiche identifiziert: es handelt sich um Josef Bühler, hochrangiger Parteifunktionär, ehemaliger Staatssekretär im Generalgouvernement Polen und Veteran des 1923er Putsches im Münchner Bürgerbräukeller. Bühler war wohlhabend und einflussreich. Keine Überraschung, dass sich die Gestapo der Ermittlungen bemächtigt. Wenige Tage vor dem 75. Geburtstag des Führers möchte niemand einen öffentlichen Skandal provozieren. Doch März lässt Bühlers Tod keine Ruhe. Zu viele Ungereimtheiten lassen ihn an der Theorie eines tragischen Unfalls zweifeln. Ungeachtet der Konsequenzen beginnt er, in Bühlers Vergangenheit zu forschen, um herauszufinden, warum der Rechtsanwalt sterben musste. Je tiefer er gräbt, desto ungeheuerlicher werden die Geheimnisse, auf die er stößt. Die Wahrheit bedroht die Grundpfeiler des Deutschen Reiches – und somit auch März‘ Leben.

„Deutschfeindlich“. Ein starkes Wort, das ich nicht unterschreiben kann. „Satirisch“ wird „Vaterland“ im Klappentext genannt – eine Einschätzung, die ich ebenfalls nicht teile, denn Satire verfügt stets über ein humoristisches Element, das ich hier nicht erkennen kann. Das Buch ist bitterer Ernst. Die Alternativvergangenheit, die Robert Harris zeichnet, ist zu echt, zu vorstellbar, um darüber zu lachen. Ich fand es verstörend realistisch und bin unfassbar dankbar, dass dieser erschreckend fundiert und konsequent gestaltete abweichende Geschichtsverlauf lediglich fiktiv ist. Ich habe meine Heimatstadt kaum wiedererkannt. Es war beängstigend, Albert Speers Pläne für Berlin verwirklicht zu sehen. Megalomane, graue Klotzbauten soweit das Auge reicht. Eine Große Reichshalle, so riesig, dass sie eigene Wetterbedingungen erschafft. Auf der „Siegesallee“ ausgestellte, im Krieg erbeutete Panzer. Die Kulisse dieses nationalsozialistischen Berlins im Jahre 1964 unterstreicht die bedrückende, trostlose Atmosphäre des Buches. Der allgegenwärtige Polizeistaat äußerster Schärfe wirkte auf mich massiv einschüchternd; ich hatte während des Lesens ständig das Bedürfnis, über die Schulter zu schauen, um mich zu vergewissern, dass ich im Gegensatz zu den Figuren nicht beobachtet werde. Neben einigen historischen Persönlichkeiten, für die Harris fiktive Biografien ersann und real existierenden Dokumenten, die er geschickt einarbeitete, schwingen die bekannten Gräuel der faschistischen Diktatur permanent im Subtext mit: Willkür, Folter, Hinrichtungen, Deportationen, Überwachung, Repression jeglicher Individualität und die Bereitwilligkeit des deutschen Volkes, Mitbürger_innen zu denunzieren. Die wenigsten dieser Punkte spricht Robert Harris explizit an, doch sie fordern trotz dessen Raum in seiner Geschichte ein, sie sind unsichtbare, geflüsterte Präsenzen, die das Setting dieser historischen Dystopie präzise vermitteln. Meiner Meinung nach sind Dystopie und Kriminalhandlung in „Vaterland“ gleichberechtigt und stützen sich gegenseitig, sodass Leser_innen schnell begreifen, welches Wagnis der Protagonist Xaver März mit seiner unautorisierten Mordermittlung eingeht. Er riskiert sein Leben bewusst. März ist ein Bilderbuch-Detektiv, einsam, traumatisiert, isoliert und ein unverbesserlicher Workaholic. Er wusste, für welches System er arbeitet, sieht sich aber erst durch den Fall des toten Josef Bühler damit konfrontiert, sich dieses Wissen eingestehen zu müssen. Folglich durchläuft er eine Entwicklung, die graduell mit der zunehmenden Tiefe des Falls fortschreitet. Mir gefiel es sehr, dass die Ermittlung stetig neue Ebenen erreicht und ich daher Stück für Stück zur widerwärtigen Wahrheit vordrang. Zwischenzeitlich erfüllte mich grenzenlose Hoffnungslosigkeit; es fühlte sich an, als gäbe es einfach keine Handhabe gegen diesen übermächtigen, brutalen Staat. Es erscheint mir ein wenig paradox, dass sich Hoffnung erst einschlich, als sich das Ausmaß des Übels offenbarte. Wer allerdings auf ein Happy End baut, wird enttäuscht werden. „Vaterland“ konnte nicht mit einem Ritt in den Sonnenuntergang enden, da Robert Harris sonst jegliche Glaubwürdigkeit verloren hätte.

Ich finde es richtig, dass einige der negativen Kritiken, die „Vaterland“ bei seinem Erscheinen erhielt, mittlerweile revidiert wurden. Meiner Meinung nach verkennen die harschen Worte gänzlich die Intention des Autors. Robert Harris wollte weder angreifen noch beleidigen. Er wollte lediglich aufzeigen, dass ein Reich nach den Vorstellungen Hitlers und seiner Schergen auch dann in sich zusammengebrochen wäre, hätten die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Die Lügen hätten es früher oder später von innen zerfressen. Mich überzeugte die gewagte Mischung aus Krimi, historischem Roman und Dystopie vorbehaltlos und ich denke, dass der Brite einen wichtigen Beitrag zur Verarbeitung der europäischen Geschichte leistete. Dafür gebührt ihm Lob statt Tadel.

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