Livi Michael – Die Flüsternde Straße

Cover des Buches "Die Flüsternde Straße" von Livi Michael

Autor_in: Livi Michael

Format: Taschenbuch

Seitenzahl: 507 Seiten

Verlag: Cornelsen

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3551356920

Genre: Historische Fiktion & Mystery

Ausgelesen: 28.12.2014

Bewertung: ★★☆☆☆

Ich glaube, „Die flüsternde Straße“ von Livi Michael war bei einem Bücherpaket dabei, das ich irgendwann einmal ersteigert habe. Manchmal ist es ja so, dass man ein Buch unbedingt haben will, das es aber nur in Kombination mit einem anderen bei eBay gibt. Also arrangiert man sich mit dem zusätzlichen Buch. Große Hoffnungen setzte ich nicht in diesen Roman, aber eine Geschichte über Waisenkinder im England des 19. Jahrhunderts schien mir perfekt in den Dezember zu passen.

Das Armenhaus, in dem Joe und Annie einige Jahre aufwuchsen, war kein Paradies. Doch der Bauernhof, auf dem sie nun arbeiten müssen, ist die leibhaftige Hölle. Sie frieren, sie hungern, sie werden geschlagen. Eines Tages sind die Prügel so heftig, dass Joe beschließt, keinen Tag länger bleiben zu können. Tatsächlich gelingt es den Geschwistern, zu fliehen – hinein in eine Welt, in der es nur wenig Platz für zwei ausgehungerte, zerlumpte Waisenkinder gibt. Zusätzlich wird Annie Joe auf ihrer beschwerlichen Reise immer mehr zu Last, denn Annie ist ein Medium. Sie kann die Toten sehen und mit ihnen sprechen. Als die beiden auf eine Gruppe Schausteller treffen, lässt Joe seine kleine Schwester einfach dort, um sich selbst einer Kinderbande in den Straßen Manchesters anzuschließen. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlt er sich frei. Doch schon bald muss Joe einsehen, dass diese Freiheit ganz und gar nicht seinen Erwartungen entspricht …

Im 19. Jahrhundert war England auf dem Höhepunkt der industriellen Revolution. Ich assoziiere damit eine besondere Atmosphäre, die Livi Michael mir in „Die flüsternde Straße“ jedoch nicht vollständig vermitteln konnte. Sie hat es versucht, das gestehe ich ihr zu, aber trotzdem war es beim Lesen stets so, als würde ich es sehen, nicht, als wäre ich dort. Statt in die Geschichte von Joe und Annie einzutauchen, war ich ein Zaungast, wodurch mich ihre Schicksale nur auf einer sehr abstrakten Ebene berührten. Ich konnte mich nicht richtig in sie einfühlen.
Ich schätze, das hatte auch damit zu tun, dass Livi Michael sehr viel Potential verschenkte, indem sie sich dafür entschied, aus Joes Ich-Perspektive zu schreiben. Ich finde das aus mehreren Gründen ungünstig. Joe ist vermutlich ca. 10, 12 Jahre alt. Ich halte Michael für nicht talentiert genug, um sich in einen Jungen dieses Alters während der Zeit der industriellen Revolution hineinzuversetzen. Dafür braucht es schon ein ausnehmend hohes Maß an Sensibilität. Außerdem schließt diese Perspektive Annie völlig aus, dabei ist sie als Medium eindeutig der Aufmacher des Buches. Ich bin sehr enttäuscht, dass die Autorin auf ihre speziellen Fähigkeiten so wenig einging. Als LeserIn sieht man Annie ausschließlich durch Joes Augen und als er sich von ihr trennt, verschwindet sie über 200 Seiten lang komplett aus der Geschichte. Ich verstehe diesen Handlungsaufbau nicht. Wieso inszenierte Michael die Trennung von Joe und Annie, wenn es wesentlich interessanter gewesen wäre, zu erleben, wie jemand so besonderes wie Annie sich in den Straßen Manchesters schlägt?
Ich hatte daher den Eindruck, dass Livi Michael während des Schreibens den Fokus ihrer Geschichte geändert hat. Anfangs sollte es vermutlich vordergründig um die Geschwister gehen, aber ich glaube, auf halber Strecke entschied sie sich um und konzentrierte sich dann auf die Lebensumstände der Armen in dieser Epoche. Natürlich ist dieses Thema interessant, doch der Roman wirkt auf diese Weise unruhig und unausgereift. Diese Empfindung wurde meiner Meinung nach noch verstärkt, weil es in „Die flüsternde Straße“ für meinen Geschmack zu viele Zufälle gibt. Ich musste mir die Frage stellen, ob Livi Michael die Handlungsabläufe möglicherweise nicht so konsequent durchdacht hat, wie es eigentlich nötig gewesen wäre.
Der Ich-Erzähler und Protagonist Joe war für mich ebenfalls problematisch. Er ist gewollt unsympathisch und ich begreife nicht ganz, warum. Sicher, er ist ein Produkt seiner Zeit und der Umstände, aber musste er denn wirklich dermaßen unausstehlich sein? Ein paar gute Eigenschaften hätten Wunder wirken und seine negativen Seiten relativieren können.
Abschließend muss ich leider auch ein paar Worte zur Form des Buches sagen. Ich weiß nicht, ob während der Übersetzung etwas schief gelaufen ist, oder ob bereits im Lektorat mächtig geschludert wurde – Fakt ist, dass die Geschichte zwischen den Zeitformen springt. Das geht nicht. Von einem Moment auf den anderen wechselt Livi Michael plötzlich von Präsens zur Vergangenheitsform und wieder zurück, ohne dass dieser Wechsel motiviert oder nachvollziehbar wäre. Das war nicht nur merkwürdig, sondern auch massiv irritierend. Ich verzeihe ja viel, aber das nicht. Sowas darf einfach nicht passieren.

„Die flüsternde Straße“ hätte ein wirklich gutes Buch sein können. War es aber nicht. Die historischen Hintergründe waren selbstverständlich spannend und die Geschichte las sich flüssig, doch trotzdem weist es zu viele Mängel auf, um mehr als zwei Sterne zu verdienen. Ein Teil von mir hat wohl gehofft, einen Roman in Dickens-Manier vorzufinden. Tja, da wurde ich definitiv enttäuscht. Lasst die Finger von „Die flüsternde Straße“. Wenn ihr ein Buch über Waisenkinder im England des 19. Jahrhunderts lesen möchtet, greift einfach gleich zu Charles Dickens.

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