Scott Lynch – Die Lügen des Locke Lamora

Cover des Buches "Die Lügen den Locke Lamora" von Scott Lynch

Reihe: Gentlemen Ganoven #1

Autor_in: Scott Lynch

Format: Taschenbuch

Seitenzahl: 848 Seiten

Verlag: Heyne

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3453530918

Genre: Fantasy > Low Fantasy

Ausgelesen: 01.02.2014

Bewertung: ★★★★★

Als ich die Rezension zu „Die Lügen des Locke Lamora“ von Scott Lynch vorbereitete, stieß ich erstmals auf die Unterscheidung zwischen High und Low Fantasy. Mir war bisher nicht bewusst, dass es hierbei Unterschiede gibt; ich dachte, alle Fantasy-Romane, die die Konstruktion einer neuen oder völlig anderen Welt beinhalten, zähle man zur High Fantasy. Tatsächlich ist dieser Punkt durchaus ein Merkmal der High Fantasy, ebenso wie das Erschaffen einer eigenen Sprache und eines eigenständigen Ökosystems; nicht zu vergessen das Auftauchen fantastischer, fiktiver Völker. Die Handlung ist meist von einer abenteuerlichen und gefährlichen Reise der heldenhaften Protagonisten geprägt, die ein bestimmtes Ziel erreichen oder verfolgen müssen, um die Welt zu retten. Als Schlüsselroman der High Fantasy wird – wie könnte es anders sein – „Der Herr der Ringe“ von J.R.R. Tolkien genannt. Die Low Fantasy hingegen bietet dem Leser weniger gradlinige Helden und Bösewichte an. Die Charaktere sind eher ambivalent; sie haben sowohl positive als auch negative Eigenschaften. Im Mittelpunkt steht in der Regel nicht die Rettung der Welt, sondern das Leben und Schicksal der Protagonisten.

In Bezug auf „Die Lügen des Locke Lamora“ musste ich dementsprechend einsehen, dass es sich hierbei eher um einen Low Fantasy Roman handelt als um einen Vertreter der High Fantasy. Der Protagonist Locke Lamora lebt nach seinen eigenen Regeln. Er ist ein Lügner, ein Dieb, ein Schuft und der Anführer der „Gentleman-Ganoven“, einer Gruppe Diebe, die sich aus ihm und seinen Freunden Jean, Bug und den Zwillingen Calo und Galdo Sanza zusammensetzt. Mit viel Charme und Witz schröpfen sie gemeinsam die Reichen und Mächtigen der Stadt Camorr um ihr Geld, obwohl dies durch den Geheimen Frieden und den Capa Camorrs eigentlich strengstens verboten ist. Als sich die Machtstrukturen innerhalb Lockes Heimatstadt verschieben, wird er vor die gefährlichste und trickreichste Aufgabe seines bisherigen Lebens gestellt; eine Aufgabe, die seinen gewitzten Verstand über alle Maßen fordert. Kann Locke diese lösen, ohne sein Leben und das seiner Freunde aufs Spiel zu setzen und damit verhindern, dass Camorr in Flammen aufgeht?

Scott Lynch teilte seinen ersten Band der Gentleman-Ganoven-Reihe in vier Bücher sowie Prolog und Epilog ein. Diese sind jeweils noch in Kapitel, Zwischenspiele und Abschnitte strukturiert. Da meine deutsche Taschenbuch-Ausgabe 848 Seiten umfasst, empfand ich diese Organisation des Buches als wirklich hilfreich; ein so dicker Schmöker liest sich doch leichter, wenn die Kapitel kürzer sind und man zwischen den Handlungssträngen ein paar Augenblicke hat, in denen man Luft holen und überlegen kann, was eigentlich auf den letzten Seiten passiert ist. Die Handlung an sich teilt sich in Gegenwart und Vergangenheit, der Leser begegnet Locke sowohl als Kind als auch als erwachsenem Mann und Dieb. Hier zeigt sich auch Scott Lynchs großes Talent, er spielt auf faszinierende Weise mit der Erwartungshaltung seiner Leser. Er nimmt sich viel Zeit, wohlüberlegte Spannungsbögen aufzubauen, arbeitet dann eine überraschende Wendung ein und kippt somit jegliche Erwartungen, die der Leser bis dahin entwickelt hatte. Ich habe noch während der Lektüre bemerkt, dass ich vom Autor manipuliert wurde; es hat unglaublich viel Spaß gemacht, mich selbst dabei zu beobachten, wie ich Lynch auf den Leim ging und seine Strategien bei mir voll und ganz griffen. Szenen und Charaktere sind den kompletten Roman über rund und detailliert gestaltet; es gab keinen einzigen Moment, in dem ich an deren Nachvollziehbarkeit und Logik zweifelte. Der Protagonist Locke Lamora ist darüber hinaus eine wirklich außergewöhnliche Figur: körperlich eher wenig beeindruckend, liegt seine Stärke in seiner bestechenden Intelligenz. Nicht umsonst ist Locke der Kopf der Gentleman-Ganoven; all ihre umfangreichen, diebischen Pläne entstammen seinem Verstand, welche er bis ins kleinste Detail ausarbeitet und dabei alle möglichen Konsequenzen einkalkuliert. Er ist ein wahres Chamäleon, ein Verkleidungskünstler, was es ihm erlaubt, die ganze Stadt Camorr zum Narren zu halten. Nicht weniger beeindruckend sind Lockes Freunde und die restlichen Charaktere des Buches gestaltet, wobei heraussticht, dass auch weibliche Figuren auftauchen, die über den für Low Fantasy typischen Status als Amazone, Sexobjekt oder Fräulein in Not hinausgehen. Ich würde mich nicht dazu hinreißen lassen, die Frauenrolle in „Die Lügen des Locke Lamora als emanzipiert zu bezeichnen, es fällt jedoch auf, dass Frauen häufiger und in wichtigeren Positionen auftreten als in vielen anderen Fantasy Romanen.

Insgesamt hat mir Scott Lynchs Erstlingswerk ausnehmend gut gefallen; ich habe mit Locke geweint, gelacht, gelitten und gebangt. Lynch hat mich komplett abgeholt und mir eine Woche lang wunderbaren Lesespaß beschert. Obwohl es ein Fantasy Roman ist, sind die fantastischen Elemente eher rar gestreut, was sicher vielen entgegen kommt, die sonst Probleme damit haben, sich eine magiegeschützte Handlung vorzustellen. Ich bewundere seine innovativen Ideen; wie kommt man beispielsweise darauf, einen Gladiatorenkampf gegen Haie in einer schwimmenden Arena stattfinden zu lassen? Ich empfehle dieses Buch an alle weiter, die zwiespältige Charaktere und eine umfangreiche, fein ausgeklügelte Handlung lieben. Die Venedig-gleiche Stadt Camorr wird euch mit offenen Armen empfangen.

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