John Green – The Fault in Our Stars

Cover des Buches "The Fault in Our Stars" von John Green

Autor_in: John Green

Format: Taschenbuch

Seitenzahl: 313 Seiten

Verlag: Penguin

Sprache: Englisch

ISBN-10: 0141345659

Genre: Realistische Fiktion > Young Adult

Ausgelesen: 26.03.2020

Bewertung: ★★★★★

Kann ich irgendetwas über „The Fault in Our Stars“ von John Green schreiben, das noch nicht geschrieben wurde? Ich glaube nicht. Ich glaube auch nicht, dass ich euch erklären muss, um welches Buch es sich handelt. Spätestens beim deutschen Titel „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ (übrigens eine furchtbare Variante, schließlich ist der Originaltitel ein Shakespeare-Zitat) sollten in euren Köpfen alle Glocken laut klingeln.

Also dachte ich mir, lassen wir die Einleitung doch einfach wegfallen. Ersparen wir mir ausnahmsweise die Recherche von Trivia, die sowieso jede_r nachlesen kann und kommen direkt zum Eingemachten. Denn das hat es dieses Mal so richtig in sich, das verspreche ich euch.

Hazel tanzt Tango mit dem Tod. Das war schon immer so. Seit in ihrer Kindheit der Krebs diagnostiziert wurde, der sie langsam von innen auffrisst, besteht ihre Hauptaufgabe im Überleben. Ein Wunder verschaffte ihr bereits mehr Lebenszeit, als ihre ursprüngliche Prognose versprach, doch Schule, Freunde und alles, was für andere 16-Jährige wichtig ist, hat für Hazel kaum Priorität. Erst, als sie in ihrer Selbsthilfegruppe den umwerfenden Augustus Waters kennenlernt, ändern sich ihre Prioritäten schlagartig und sie begreift, dass sie todkrank sein mag – aber noch längst nicht tot.

Okay. Dies wird vermutlich die persönlichste Rezension, die ich seit langer Zeit geschrieben habe. Formal handelt es sich um eine Besprechung von „The Fault in Our Stars“ von John Green. In Wahrheit ist es jedoch eher ein emotionales Resümee meiner Leseerfahrung. In Wahrheit ist es eine Geschichte meiner Trauer.

Einige von euch erinnern sich wahrscheinlich, dass meine Hündin Chilli am 24. September 2019 gestorben ist. Dieses Erlebnis war das Schlimmste, das mir bisher in meinem Leben widerfahren ist. Sie gehen zu lassen, war das Schwerste, das ich je tun musste. Chilli war der Mittelpunkt meines Universums. Sie war mein Sonnenschein, mein Ein und Alles, mein Grund, jeden Morgen aufzustehen. Als sie starb, hinterließ sie einen Krater in meinem Herzen, der so gewaltig ist, dass die Ränder erst jetzt, ein halbes Jahr später, beginnen, zu verschorfen und langsam zu heilen. Ich vermisse sie schrecklich. Es vergeht kein Tag und beinahe keine Nacht, ohne dass ich an sie denke oder von ihr träume.

Ich wusste ungefähr, was mich erwartet, als ich „The Fault in Our Stars“ aus dem Regal zog. Ich wusste, dass es ein Bestseller ist, gehypt wie kaum ein anderes Buch und dass es um eine krebskranke Jugendliche geht, die sich unsterblich verliebt. Meine Entscheidung, den Roman genau jetzt zu lesen, war eher impulsiv und nicht wohldurchdacht. Primär dachte ich, dass es ein guter Zeitpunkt sei, weil ich für die Motto-Challenge im März Verkaufsschlager lesen sollte, also Bücher, um die ein Hype besteht, die sich als Bestseller qualifizieren oder die von Autor_innen verfasst wurden, die als populär gelten. Man nenne mir ein Buch, das besser zu diesen Anforderungen passt als „The Fault in Our Stars“.

Außerdem plante ich, mit der Lektüre meine Lesestatistik aufzupolieren, denn für meine Verhältnisse ist es mit etwas mehr als 300 Seiten recht schmal und Jugendliteratur liest sich in der Mehrheit der Fälle ja fix und flüssig. Ich war überrascht, wie sehr sich mein Bauch trotz dieser rationalen Gründe auf das Buch freute – ich hatte es eigentlich nur gekauft, weil es auf meiner Liste der modernen Klassiker stand, nicht, weil ich mich tatsächlich danach sehnte, die gehypte Geschichte kennenzulernen.

Es gab eine Zeit in meiner Lesekarriere, in der ich häufig zu sogenannter Erfahrungsliteratur griff. Berichte psychisch kranker Menschen, Krebstagebücher, die Erlebnisse von Menschen, die in die Fänge diverser Sekten gerieten, die Schilderungen misshandelter Kinder und Frauen – ich las sie alle. Ich denke, ich lechzte damals nach einer Öffnung meines Horizonts, ohne dass ich das in diesen Jahren hätte ausformulieren können.

Irgendwann fühlte ich mich gesättigt und distanzierte mich wieder von diesen Büchern. Auf gewisse Weise waren sie ja doch alle gleich und die ständigen Angriffe auf mein Herz begannen, ihren Effekt zu verlieren. Ich stumpfte ab und hatte keine Lust mehr auf deprimierende, reale Geschichten. Seitdem mache ich um diese Form der Literatur meist einen großen Bogen. Ich verbannte die Krebstagebücher, die Berichte extremer Lebensumstände und Schicksalsschläge in eine entfernte Ecke meines Bücherhirns, die ich nur selten mental besuche. Obwohl es rein fiktiv ist, befand sich auch „The Fault in Our Stars“ in dieser eingestaubten Ecke, als ich es auswählte.

Ich bin kein besonders sentimentaler Mensch. Ich breche nicht bei jeder Kleinigkeit in Tränen aus. Ich bin nicht kaltherzig, aber es bedarf schon besonderer literarischer Momente, um meine emotional schützende Mauer zu überwinden. Beschreibungen von Krankheiten reichen dafür normalerweise nicht aus, weil ich seit meiner Geburt in meiner Familie mit den Auswirkungen gesundheitlicher Hürden konfrontiert bin. Ich wurde dazu erzogen, Krankheiten als das zu akzeptieren, was sie sind, zu tun, was nötig und möglich ist und nicht zu verzweifeln, egal, wie düster die Aussichten sind.

Hysterie ist nicht hilfreich, nicht produktiv. Schwer krank zu sein ist – entschuldigt die Umgangssprache – scheiße, aber ich lernte, dass es gar nichts bringt, sich im Selbstmitleid zu suhlen und sich davon lähmen zu lassen. Das heißt allerdings nicht, dass ich alle Gefühle, die damit einhergehen, wie Zorn, Trauer und Hoffnungslosigkeit, nicht als legitim anerkenne.

Als Chilli krank wurde und ich zwei Monate lang zusehen musste, wie es ihr von Tag zu Tag schlechter ging, ohne ihr helfen zu können, habe ich all diese Empfindungen selbst erlebt. Ich habe geweint, ich bin innerlich mit jeder weiteren schlechten Nachricht aufs Neue zerbrochen. Aber ich bin immer wieder aufgestanden. Ich habe zusammengekehrt, was von mir übrig war, habe mir ein Lächeln ins Gesicht geklatscht und habe weiter gemacht. Ich schreibe das nicht, um Lob oder Bewunderung zu ernten, ich will lediglich erklären, wie ich mit Krankheiten umgehe.

Sie verdiente es, dass ich an sie glaube. Ich durfte sie nicht sehen lassen, wie sehr mich ihre Erkrankung und ihre desaströse Prognose aus dem Gleichgewicht brachten. Sie brauchte mich an ihrer Seite bei diesem Kampf, sie brauchte ihre Mama, die mutig und stark für sie ist, sie beschützt und sie daran erinnert, dass es sich lohnt, zu kämpfen, egal wie weh es tut oder wie anstrengend es ist. Sie brauchte einen Champion und genau das war ich für sie, weil meine Verzweiflung uns beide nur handlungsunfähig gemacht hätte, hätte ich sie die Oberhand gewinnen lassen.

Deshalb fühlte ich mich für „The Fault in Our Stars“ hervorragend gewappnet. Mehr noch, ich glaubte vor der Lektüre nicht daran, dass mich dieses Buch, das ich aus der vernachlässigten „Erfahrungen“-Ecke meines Bücherhirns hervorkramte, berühren könnte. Ich vertraute auf meine Mauer. Ich befürchtete sogar, dass ich es unerträglich kitschig finden würde. Ich war nicht auf die entwaffnende Ehrlichkeit von „The Fault in Our Stars“ vorbereitet; ich war nicht darauf vorbereitet, wie tief es mich bewegen würde. Vielleicht hätte es das auch nicht geschafft. Vielleicht wäre meine Mauer funktional und intakt geblieben. Vielleicht. Wäre Chilli nicht im September gestorben.

„The Fault in Our Stars“ wirkte auf mich, wie es wirkte, weil Chilli nicht mehr hier ist, weil ich sie nach einem raschen, katastrophalen Krankheitsverlauf gehen lassen musste. Ich kann mir vorstellen, dass sich einige Leser_innen nun pikiert fühlen und es unangemessen finden, dass ich zwischen einem Buch, das das Schicksal einer unheilbar krebskranken Jugendlichen behandelt, und dem Tod meiner Hündin einen Bezug herstelle. In meinem Kopf flippert bereits der Satz „Es war doch nur ein Hund“ umher. Denjenigen unter euch, die das denken, möchte ich zwei Dinge sagen.

Erstens, Chilli war nicht „nur ein Hund“ für mich. Sie war das wundervollste, schönste und bezauberndste Lebewesen, das diese Welt je gesehen hat. Sie war meine Gefährtin. Unsere Beziehung war rein, frei von Erwartungen, es war bedingungslose Liebe, die sonst vielleicht nur Eltern erfahren. Sie war meine beste Freundin, mein Baby und das Alpha und Omega all meiner Gedanken. Sie hatte eine Persönlichkeit, einen Charakter, sie brachte mich zum Lachen und zum Weinen. Sie war kein seelenloses Ding und ein Satz wie „Es war nur ein Hund“ verkennt all das, was ich bis heute für sie empfinde und wohl immer empfinden werde.

Zweitens, es ist vollkommen unerheblich, ob ihr versteht, was mir „The Fault in Our Stars“ dank Chilli bedeutete oder ob ihr es angemessen findet. Jede Lektüre eines Buches wird von unseren Emotionen, Erfahrungen und Umständen beeinflusst. Es heißt, ist ein Buch einmal geschrieben, gehört es nicht mehr dem Autor oder der Autorin. Es gehört den Leser_innen. Niemals war diese Weisheit wahrer. Mich kümmert eure Billigung nicht, weil ich aus „The Fault in Our Stars“ unerwartet etwas gemacht habe, das nur mir gehört, das hochgradig individuell und persönlich ist. Das ist das Wunder der Literatur. Eine Geschichte zu der eigenen zu machen – mehr kann man sich von einem Buch nicht wünschen. Es steht niemandem zu, darüber zu urteilen.

Ich habe kurz überlegt, ob ich diese Rezension überhaupt schreiben soll. Ich kam schnell zu dem Ergebnis, dass ich es verdiene, meine aufgewühlten Emotionen, die die Lektüre auslöste, über meine Finger auf der Tastatur meines Laptops von innen nach außen abfließen zu lassen. Ich verdiene ein Ventil. Ich muss mir Luft machen, um wieder Ordnung in meiner Seele einkehren zu lassen. Darum beschloss ich, all meine üblichen Gewohnheiten bezüglich des Schreibens von Rezensionen in den Wind zu schießen und einfach drauf loszutippen.

Ich habe keine Notizen verfasst. Ich habe „The Fault in Our Stars“ nicht auf dem Stapel Bücher mit ausstehenden Rezensionen geparkt. Ich habe mir eine Nacht gegönnt, um über meine Leseerfahrung zu schlafen und dann sofort mit dem Schreiben begonnen. Ich habe nicht mit Inhaltsangabe und Einleitung angefangen, sondern direkt mit meiner Einschätzung. Ich ziehe das Buch weit vor, weil es wichtig für mich ist, unmittelbar zu reagieren und die Wirkung meines Textes unter der monatelangen Zeitverzögerung, die mein gewohnter Ablauf produziert hätte, gelitten hätte. Also seht ihr vor euch eine Rezension, die sogar für mich eine Art Experiment, aber hoffentlich so ehrlich, wahrhaft und intim ist, wie ich es jetzt gerade brauche.

Vorneweg möchte ich festhalten, dass ich „The Fault in Our Stars“ technisch nicht für ein Meisterwerk halte. Der Schreibstil ist eingängig, aber nicht atemberaubend; die Geschichte ist an einigen Punkten unerwartet, aber nicht sensationell originell. Eigentlich ist es ein typischer Young Adult – Roman der realistischen Fiktion, dessen Aufbau, Struktur und sprachliches Niveau die Anforderungen des Genres widerspiegeln. Dennoch entwickelte sich „The Fault in Our Stars“ zu einem globalen Bestseller. Wieso? Was ist an diesem Buch anders als an anderen?

Ich denke, die Antwort liegt in der in bittersüßen Galgenhumor verpackten schonungslosen Tabulosigkeit, mit der John Green die Episoden aus dem Leben seiner Protagonistin und Ich-Erzählerin Hazel schildert. Hazel kämpft seit frühester Kindheit gegen eine aggressive, seltene Form von Lungenkrebs. Sie kann nicht richtig atmen, wodurch ihr gesamter Körper permanent an Sauerstoffmangel und den damit verbundenen Folgesymptomen leidet: Kurzatmigkeit, schmerzende Glieder, Erschöpfung und vieles mehr.

Sie gilt als medizinisches Wunder, weil sie ihr Alter von 16 Jahren ausschließlich einem (fiktiven) Medikament verdankt, das das Tumorwachstum stoppte. Ohne dieses Medikament wäre sie bereits tot. Sie ist nicht geheilt, sie befindet sich lediglich in einem Patt mit ihrem Krebs. Ihre Erkrankung bestimmt jede Sekunde ihres Alltags.

Deshalb ist sie das, was sie selbst eine professionell kranke Person nennt. Sie weiß genau, was mit und in ihr vorgeht. Sie weigert sich, ihre Situation zu beschönigen und spricht über alles, was damit einhergeht, offen, direkt und ohne moralische Hemmungen. Sie nennt das Kind beim Namen, immer und immer wieder, egal wie hässlich, absurd oder beschämend es sein mag. Beeindruckend nachvollziehbar beschreibt sie die physischen Auswirkungen, die psychische Belastung, ihre Ängste, Sorgen, Zweifel und die vielen Emotionen, die ein zum Sterben verurteilter Teenager vermutlich tatsächlich durchlebt, und zeigt dabei einen intelligenten, ansteckenden Humor, der Überlegungen zu Schicklichkeit im Keim erstickt.

John Green bringt seine Leser_innen dadurch sehr nah an Hazel heran; von Anfang an hatte ich das Gefühl, mich wirklich in ihren Gedanken aufzuhalten und musste überhaupt keine Distanz zwischen uns überbrücken. Außerdem bot sie mir eine Gelegenheit, das gesellschaftliche Verhalten kranken Menschen gegenüber zu reflektieren, ohne mich angegriffen zu fühlen. Es ist bedauernswert, wie viele Leute mit der Anwesenheit einer unheilbar kranken Person überfordert und wie groß ihre Berührungsängste sind.

Statt die eigene Unbeholfenheit einzugestehen und einfach zu fragen, werden ständig abgedroschene Phrasen geklopft, die weder helfen noch einfühlsam sind, sondern ignorant und im schlimmsten Fall sogar verletzend wirken. Ich danke John Green und Hazel dafür, dass sie mir das bewusst machten und habe mir fest vorgenommen, mein eigenes Benehmen dahingehend zu überprüfen.

Nun wäre der Alltag eines schwer krebskranken Mädchens, das nicht regulär zur Schule gehen, keine Hobbys ausüben und nur minimale soziale Kontakte pflegen kann, allein nicht besonders spannend oder interessant. Natürlich brauchte es einen äußeren Faktor, der Hazel aus der monotonen Isolation ihrer Krankheit reißt. Dieser Faktor heißt Augustus Waters, ist 17 Jahre alt und begegnet Hazel in ihrer Selbsthilfegruppe. Augustus stellt ihr Leben auf den Kopf und lehrt sie, dass die Weisheit, dass ein gebrochenes Herz besser ist, als nie geliebt zu haben, durchaus einen Funken Wahrheit enthält.

Die Beziehung, die sich zwischen ihnen entfaltet, ist zauberhaft und trotz all der Schwierigkeiten, die sich aus ihren speziellen Umständen ergeben, niemals schmalzig oder melodramatisch gestaltet. All die betonte, aufdringliche Krebstragik, die ich aus so vielen Büchern kenne, sucht man in „The Fault in Our Stars“ vergebens. Das ist auch gar nicht nötig, die Fakten sprechen für sich.

Ich möchte gar nicht viel verraten; ihr müsst euch damit zufriedengeben, dass ich Hazel und Augustus für eines der großen Paare der Literaturgeschichte halte, die in einigen hundert Jahren vermutlich bis ins Detail seziert sein werden. Stattdessen möchte ich nun darlegen, warum „The Fault in Our Stars“ für mich eine intensive Lektüre war, die mir unheimlich naheging.

Seit Chillis Tod habe ich kein anderes Buch gelesen, durch das ich mich so verstanden fühlte. Es enthält Zitate, Passagen und Szenen, in denen ich mich bis aufs Haar wiedererkannte, die in mir resonierten und vieles ausformulierten, das ich bisher nicht in Worte fassen konnte. Es bot mir Bilder und Metaphern, die mir helfen, meine Trauer zu definieren und zu akzeptieren, wie hart ihr Kampf ums nackte Überleben für mich war, wie schmerzhaft es war, ihr beim langsamen Sterben zusehen zu müssen, während alles, was ich für sie tun konnte, stets ungenügend war.

Ich liebe „The Fault in Our Stars“ nicht für all seine zarten, leuchtenden Momente, ich liebe es für die brutale, schwarze Wahrheit, was es bedeutet, ein unheilbar krankes Familienmitglied voller Liebe und Entschlossenheit zu pflegen und am Ende trotzdem gegen den Tod zu verlieren. Chilli hat nicht wie Hazel empfunden, das konnte sie gar nicht, aber ich habe oft wie sie selbst und ihre Eltern empfunden.

Sie vergleicht den Effekt, den der Tod einer geliebten Persönlichkeit auf das Umfeld hat, mit einer Granate, die alle Betroffenen mit Schrapnell übersät. Das entspricht exakt dem, was ich fühle, seit Chilli tot ist. Ich fühle mich, als würden in meiner Seele tausende winzige Splitter stecken. Bei jeder unbedachten gedanklichen Bewegung tut es an einer anderen Stelle weh, ein spitzer, scharfer Schmerz, der glasklar aus dem ohnehin permanent vorhandenen Brennen der zahllosen Wunden hervorsticht.

Hazel möchte genau diesen Zustand für ihre Eltern und alle anderen, die sie lieben, vermeiden, muss im Verlauf der Geschichte jedoch einsehen, dass der Schmerz ein Preis ist, den sie gern zu zahlen bereit sind. Auch ich würde den Schmerz über Chillis Verlust um nichts in der Welt eintauschen. 12 wunderbare Jahre mit ihr verbringen zu können, war all die Tränen wert.

Ich weiß nicht mit Sicherheit, welche Krankheit Chilli hatte. Das diagnostizierbare Symptom war Anämie, ein Mangel an roten Blutkörperchen. Ursprünglich nahmen ihre Ärzt_innen an, dass diese von einer Infektion mit Blutparasiten ausgelöst wurde und ihr Körper versuchte, die Parasiten im Blut zu bekämpfen. Doch als die Zahl ihrer roten Blutkörperchen trotz einer aggressiven Behandlung mit Antibiotika weiter sank, gingen sie von einer Autoimmunerkrankung aus und überstellten uns an eine Tierklinik.

Dort wiederum wurde ein Tumor als potenzielle Ursache nicht ausgeschlossen. Leider lieferte keiner der zahlreichen Tests, die meiner tapferen Prinzessin angetan wurden, ein Ergebnis. Weder Röntgen, Ultraschall noch Punktierung konnten einen Tumor aufspüren. Die Medikamente, die sie im Rahmen der Autoimmunbehandlung bekam, schlugen nicht an. Es ist möglich, dass sie Krebs hatte. Es ist ebenso möglich, dass ihr kleiner Körper einfach nicht verstanden hatte, dass da nichts mehr war, was er angreifen musste und sich munter weiter selbst zerstörte.

Was auch immer es war, was ich sah, jeden Tag erlebte, war die Anämie, die sich Stück für Stück dem lebensbedrohlichen Bereich näherte. Die Parallelen zu Hazel waren für mich absolut verblüffend. Bei einer Anämie wird der Körper nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt, denn dieser wird ja von den roten Blutkörperchen transportiert. Zu wenig rote Blutkörperchen = zu wenig Sauerstoff. Das heißt, ich kannte Hazels Symptome. Chilli musste sehr ähnliche Einschränkungen durchleiden.

Sie hatte Schmerzen. Sie war schlapp, kraftlos und dauerhaft erschöpft, schlief stundenlang, weit über das normale Maß hinaus. Sie war kurzatmig. Sie hatte keinen Appetit. Nach ein paar Schritten raste ihr Herz, das verzweifelt arbeitete, um den Sauerstoffmangel auszugleichen. Von den Medikamenten wurde ihr schlecht und schwindlig. Sie verlor Gewicht, die Kontrolle über ihre Gliedmaßen und gegen Ende auch über ihre Verdauung.

Ich stand mit ihr sehr schmerzhafte, verletzende Szenen durch. Ich erinnere mich, dass ich eines Morgens aufstand und sie in ihrem Bettchen im Schlafzimmer liegen ließ, weil ich ihr die Möglichkeit geben wollte, selbst zu entscheiden, wann sie bereit war, hinterher zu kommen. Als sie nach etwa einer halben Stunde immer noch nicht ins Wohnzimmer getapst war, ging ich, um nach ihr zu sehen, denn dieses Verhalten war ungewöhnlich für sie. Ich betrat das Schlafzimmer und da lag sie. Vor ihrem Bettchen, unfähig, allein aufzustehen.

Sie hatte es versucht, war hingefallen und schaffte es nicht, sich wieder zu erheben. Dieses Bild, wie sie zusammengesackt vor ihrem Bett lag, hilflos und nicht in der Lage, zu begreifen, warum ihr Körper ihr nicht gehorchte, wird mich auf ewig verfolgen. Einige Tage später trug ich sie gerade für das Morgengassi die Treppe runter, als ich spürte und hörte, wie es neben mir platschte. Ihr Darm hatte sich von selbst entleert. Ja, das war eklig (wobei Hundehalter_innen gemeinhin eine lockere Definition von „eklig“ haben). Genau darauf will ich hinaus.

„The Fault in Our Stars“ schildert ähnlich abstoßende und verwundende Situationen und ich kann John Green nicht genug dafür danken, dass er diese Stationen des Sterbens nicht ausklammerte, sondern bewusst integrierte. Hazel illustriert, dass die Vorstellung würdevoller, inspirierender Krebspatient_innen, die niemals den Glauben an die Welt verlieren und stets ein Quell von Positivität und Optimismus sind, meist ein Märchen ist. Sterben ist hässlich. Gibt der Körper auf, ist das sichtbar und eher selten eine würdevolle Angelegenheit.

Doch obwohl es unfassbar weh tut, diesen Prozess zu begleiten, reißt man sich zusammen und tut, was getan werden muss, weil man das Wesen, das gerade dabei ist, den Kampf ums Überleben zu verlieren, liebt. Ich erkannte mich so sehr in diesen Szenen wieder, sah mich noch einmal so deutlich diese blöde Treppe im Treppenhaus putzen, dass mich die Erleichterung schier übermannte. Versteht ihr, ich hatte beim Lesen des Buches das Gefühl, dass all das, was ich mit Chilli erlebt hatte, keineswegs ungewöhnlich war, dass meine Emotionen, meine Reaktionen normal waren und ich nicht allein mit meinen furchtbaren Erinnerungen bin. Ich fühlte mich… legitimiert. Bestätigt. Verstanden.

Im Verlauf von Chillis Krankheit, anlässlich ihres Todes und auch danach wurde ich mit einem schier endlosen Repertoire gutmeinender, leerer Phrasen bombardiert. Bleib tapfer. Halte durch. Weiterkämpfen. Manchmal trieb mich das fast zur Weißglut. Was war denn bitte die Alternative? Aufgeben? Das hätte ihren Tod bedeutet. Ich hatte doch gar keine andere Wahl, ich musste weiterkämpfen.

Später wurden aus Motivationssprüchen Beileidsbekundungen. Wenn ich noch einmal „Sie lebt in deinem Herzen weiter“ hören muss, fange ich an zu schreien. Es ist ja ganz toll, dass nun offenbar alle glauben, dass sie ein Zimmer in meinem Herzen bezogen hat, aber ich hätte sie dann doch lieber hier bei mir, an meiner Seite, physisch greifbar und quicklebendig.

Ich weiß, ich weiß. Die Leute meinen es gut. Sie versuchen, mich zu trösten und sind mit dieser Aufgabe schlicht überfordert, weil es nichts gibt, das mich trösten könnte. Ich will die Anteilnahme nicht mit Füßen treten. Aber manchmal wäre es mir lieber, die Leute würden mit mir schweigen.
Hazel beschreibt den zweifelhaften Segen dieser Plattitüden ebenfalls, was mir vermittelte, dass es in Ordnung ist, nicht jeden verlegenen Ausdruck von Mitgefühl dankbar annehmen zu können. Ich muss mich nicht dafür schämen.

Trauer macht einsam und isoliert, weil mit ihr ganz viele unangebrachte, verstörende und deprimierende Emotionen und Gedanken einhergehen, die man einfach niemandem mitteilen kann. Wie soll ich erklären, dass meine größte Angst seit Chillis Tod darin besteht, dass ich sie nicht wiedersehe, wenn ich selbst einmal sterbe und ich deshalb das Gefühl habe, in einer Sackgasse zwischen Leben und Tod gefangen zu sein? Ich kann das nicht auf eine Weise formulieren, die nicht suizidgefährdet klingt, obwohl ich das wirklich nicht bin.

Es tat so gut, in „The Fault in Our Stars“ von einer anderen Person zu lesen, die ebenfalls daran zweifelt, dass man sich im Jenseits wiedertrifft und nicht weiß, warum sie sich das Leben zumutet. Ich habe in Hazel eine verwandte Seele gefunden. Wir teilen so viel, dass es beinahe unheimlich ist.

Man sagt, dass jede_r anders trauert, aber seit ich „The Fault in Our Stars“ gelesen habe, stelle ich diesen Grundsatz ein wenig in Frage. Es mag stimmen, dass es verschiedene Facetten von und Reaktionen auf Trauer gibt, doch mir erscheint es, als seien die Optionen dennoch begrenzt, weil menschliches Verhalten immer einer endlichen Anzahl von vorprogrammierten Mustern folgt. Diese Theorie torpediert natürlich die Annahme von Individualität und vielleicht missfällt das einigen Persönlichkeiten.

Für mich ist es hingegen ein Trost. Den Gedanken, dass es niemanden auf der ganzen Welt gibt, der oder die die Details meiner Trauer nachempfinden kann, fand ich grausam. Dass da doch jemand ist, ist Balsam für mein geschundenes Herz.

Ich kann immer noch nicht fassen, wie wertvoll sich „The Fault in Our Stars“ für mich entpuppte. Niemals hätte ich das erwartet. Ich vermute, dass das Universum seine Finger im Spiel hatte. Wie ist es sonst zu erklären, dass ein Buch, dessen Thema ich eigentlich seit Jahren meide, das ich maximal halbherzig auf meine Liste setzte und das ich aus rationalen Gründen zu lesen glaubte, mir exakt das lieferte, was ich am allermeisten und dringendsten brauchte?

Auch der Zeitpunkt wirkt verdächtig. Ein halbes Jahr nach Chillis Tod bin ich aus dem Gröbsten heraus und breche nicht mehr ständig in Tränen aus, doch überwunden habe ich meine Trauer noch lange nicht. Ich fange gerade an, reflektieren zu können, was mir und Chilli geschehen ist. Dass ich in genau dieser Phase unbewusst eine Lektüre auswähle, die mir dabei hilft, kann kein Zufall sein. Jemand muss unbemerkt meine Hand gelenkt haben. Vielleicht war es Chilli. Die Vorstellung gefällt mir. Wer auch immer dafür verantwortlich ist – ich möchte mich bedanken. „The Fault in Our Stars“ schickte mir der Himmel.

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