Ellen Marie Wiseman – Die dunklen Mauern von Willard State
„Die dunklen Mauern von Willard State“ von Ellen Marie Wiseman ist nur zum Teil fiktiv. Die psychiatrische Anstalt Willard State Asylum hat es tatsächlich gegeben. Als die Anstalt nach 126 Jahren des Betriebs 1995 geschlossen wurde, fanden Arbeiter auf dem Dachboden über 400 Koffer, die Patienten gehörten, die Willard nie mehr verließen. Seit 1999 arbeiteten Darby Penney, Peter Stastny und die Fotografin Lisa Rinzler unermüdlich, um die Biografien ihrer Besitzer_innen aufzudecken und ihnen ein Gesicht zu geben. Das Ergebnis ihrer Bemühungen sind die Ausstellung „Lost Cases, Recovered Lives: Suitcases from a State Hospital Attic“ und das Buch „The Lives They Left Behind: Suitcases from a State Hospital Attic“. Letzteres diente Ellen Marie Wiseman als Inspiration „Die dunklen Mauern von Willard State“ zu schreiben.
Izzy Stones Familie wurde in der verhängnisvollen Nacht zerstört, als ihre Mutter ihren Vater erschoss. Niemand weiß, was sie zu dieser grauenvollen Tat veranlasste. Allein, ohne verbleibende Angehörige, wurde Izzy jahrelang herumgereicht. Erst jetzt, mit 17, hat sie das Gefühl, Pflegeeltern zu haben, denen sie wichtig ist. Aus Dankbarkeit hilft sie den beiden bei ihrem neusten Projekt. Nach der Schließung des berüchtigten Willard State Asylum wurden auf dem Dachboden hunderte von Koffern gefunden, deren Inhalt Peg und Harry nun katalogisieren möchten. Unter den Besitztümern der Insassen entdeckt Izzy einen Stapel ungeöffneter Briefe und das Tagebuch einer Patientin namens Clara Cartwright. Izzy ist von Claras tragischem Schicksal fasziniert und setzt alles daran, ihre Geschichte zu rekonstruieren. Doch je tiefer sie in die Geheimnisse von Claras Leben vordringt, desto näher kommt sie auch den Antworten auf die Rätsel ihrer eigenen Vergangenheit.
Ich wusste bereits vor der Lektüre von „Die dunklen Mauern von Willard State“, wie furchtbar die Bedingungen in psychiatrischen Anstalten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren. Ich wusste, dass Menschen dort eher weggesperrt als behandelt wurden und dass die wenigen Therapien, die zur Verfügung standen, an Folter grenzten. Viele Einrichtungen waren hemmungslos überlastet und die hygienischen Umstände katastrophal. Insassen wurde jegliche Selbstbestimmung genommen, ihre Persönlichkeit unterdrückt. Es herrschte Gewalt, Willkür und Überforderung. Wer einmal in eine solche Anstalt eingeliefert wurde, verließ sie nur selten wieder, von einer Genesung ganz zu schweigen. All das war mir bewusst.
Trotzdem hat mich Claras fiktives Schicksal zutiefst berührt, schockiert und getroffen. Was Menschen in Einrichtungen wie Willard angetan wurde, war unmenschlich. Umso wichtiger ist es, dass es Bücher wie „Die dunklen Mauern von Willard State“ gibt. Es darf nicht vergessen werden, wie viele Leben mit dem Tag der Einlieferung in diese Anstalten endeten. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – all das löste sich auf, sobald die Patient_innen hinter den Mauern verschwanden.
Am Fall von Clara illustriert Ellen Marie Wiseman eindrucksvoll, wie ungerecht und grausam das System damals war; wie wenig ausreichte, um als geisteskrank abgestempelt und für immer der Freiheit beraubt zu werden. Ich musste während des Lesens häufig heftig schlucken und hatte am Ende sogar Tränen in den Augen. Die Macht der Emotionen, die dieses Buch vermittelt, ist der Grund, warum es von mir vier Sterne erhält, obwohl Wiseman meiner Ansicht nach nicht die beste Schriftstellerin ist. Ich sehe gern über stilistische Mängel hinweg, weil ihre Geschichte aufwühlend und unheimlich fesselnd ist.
Die Entscheidung eine geteilte Handlung zu konstruieren, die zwei Zeitstränge und zwei Protagonistinnen fokussiert, finde ich mutig und einfühlsam, denn durch den Umweg über Izzy brachte Wiseman Claras Schicksal sehr nah an ihre Leser_innen heran. Izzy ist die Verbündete, die ebenso fühlt wie man selbst, während man gemeinsam aufdeckt, wie sehr Clara in Willard leiden musste. Ihr Leben bleibt nicht abstrakt, sondern erhält einen direkten Bezug zur Gegenwart und Realität. Hinzu kommt, dass die beiden jungen Frauen sehr viel gemeinsam haben, wodurch sie wie zwei Enden der gleichen Geschichte wirken, die über die Jahrzehnte hinweg mit einander verbunden sind. Ich mochte sowohl Clara als auch Izzy gern und hatte keine Schwierigkeiten, mit ihnen zu fühlen. Sie sind zarte, empfindsame Persönlichkeiten, fast schon zu zerbrechlich für die Härte der Welt. Ich wollte sie beschützen und wünschte beiden von ganzem Herzen ein Happy End.
„Die dunklen Mauern von Willard State“ beleuchtet ein düsteres Kapitel der Vergangenheit, das unglücklicherweise viel zu selten ernsthaft angesprochen wird. Das Leid der Insass_innen psychiatrischer Einrichtungen im (frühen) 20. Jahrhundert dient heute als Blaupause zur Massenunterhaltung in Horrorfilmen, doch die zahllosen reellen Tragödien, die diese damals noch junge Wissenschaft produzierte, bleiben zu großen Teilen verschüttet. Menschen, die 50 Jahre und länger weggesperrt und gequält wurden, weil ihnen ein völlig unqualifizierter Arzt eine diffuse Diagnose attestierte, verdienen es, dass man sich an sie erinnert. Auch wenn sie dieses gewaltige Unrecht nicht auslöschen können, so helfen Bücher wie „Die dunklen Mauern von Willard State“ und selbstverständlich „The Lives They Left Behind: Suitcases from a State Hospital Attic“ dabei, Patientennummern wieder zu echten Menschen werden zu lassen. Sie geben zurück, was ihnen vor so vielen Jahrzehnten genommen wurde: eine Geschichte.
Wer sich für das Thema Psychiatrie interessiert, sollte „Die dunklen Mauern von Willard State“ von Ellen Marie Wiseman wirklich lesen. Die Kombination aus Fakten und Fiktion verschafft den Leser_innen einen realistischen Eindruck der Umstände im Willard State Asylum, ohne die menschliche Note zu vernachlässigen. Durch Claras Geschichte erhalten tausende Schicksale ein Gesicht.
Danke für die Vorstellung, ich pack es direkt auf die Wunschliste.
Sind die Briefe die gefunden werden auch als Briefe abgedruckt?
Liebe Grüße
Ela
Hey Ela,
nein, denn diese Briefe sind fiktiv. Ich weiß nicht, ob in der Realität Briefe ebenfalls geöffnet wurden, könnte mir aber vorstellen, dass sie die Privatsphäre und das Briefgeheimnis geachtet haben. :)
Viele liebe Grüße,
Elli
Guten Morgen!
Ich habe das Buch gerade als Hörbuch hier liegen. Vor ein oder zwei Wochen hatte ich schon damit begonnen, kam aber überhaupt nicht rein. Ich werde es nun nach Deiner Empfehlung aber noch einmal versuchen, sobald ich mein derzeitges Hörbuch beendet habe.
Liebe Grüße Mina
Hey Mina,
ich drücke dir die Daumen, dass es diesmal besser läuft. Zum Hörbuch kann ich zwar nichts sagen, aber für die Geschichte lohnt sich ein zweiter Versuch garantiert. :)
Viele liebe Grüße,
Elli
Mir haben für die beiden Handlungsstränge die Jahreszahlen gefehlt, vielleicht wäre es auch für andere hilfreich, wenn Du sie nochmal konkret nennst.
Und auf „….weil ihnen ein völlig unqualifizierter Arzt eine diffuse Diagnose, usw.“ möchte ich sagen, dass ich es für unfair halte, alle damaligen Ärzte so über einen Kamm zu scheren. Vielleicht hast Du durch das Buch und seine Handlung konkreten Anlass dazu, aber ich denke es gibt ein verzerrtes Bild, wenn man nicht davon ausgeht, dass auch damals die Leute nach ihren Erkenntnissen das Beste, oder wenigstens das Mögliche tun wollten.
Claras Zeitstrang beginnt 1929 und endet 1946 und Izzys Zeitstrang spielt 1995, nachdem Willard geschlossen wurde.
Unfair? Nein, das sehe ich nicht so. Ich stelle nicht in Frage, dass zumindest ein Teil dieser Ärzte ihr Möglichstes versucht hat. Das ändert aber nichts daran, dass sie unqualifiziert waren. Es gab damals keine Tests, die psychische Erkrankungen tatsächlich feststellen konnten und das wussten die Ärzte auch. Das heißt, ihre Diagnosen waren traurigerweise nur selten fundiert. Gute Absichten hin oder her, die Patienten mussten letztendlich darunter leiden.
Aus heutiger Sicht unqualifiziert, da würde ich mitgehen.
Ich glaube wir haben uns vielleicht missverstanden, weil ich davon ausgehe, dass man „qualifiziert“ und „unqualifiziert“ immer nur vor dem Hintergrund der überhaupt möglichen Qualifikation der Zeit beurteilen kann. Und ich davon ausgehe, dass die Ärzte die zu der Zeit mögliche Ausbildung und Wissenstand hatten.
Sonst könnte man auch sagen dass heute alles unqualifiziert geschieht, weil wie in 50 Jahren wieder soviel mehr darüber wissen werden.
Aber Ok, die Diskussion ist vielleicht nicht so ergiebig, wenn ich das Buch noch nicht gelesen habe, nicht wahr.
Aus heutiger Sicht, natürlich. Ich bezweifle nicht, dass die Ärzte die zur damaligen Zeit übliche Ausbildung erfolgreich absolviert haben. Ich sehe aber kein Problem darin, rückblickend über Qualifikation zu sprechen und diese zu bewerten. Ich glaube, du hast in meine Formulierung einen Vorwurf rein interpretiert, der meinerseits anders gerichtet war, als wir ihn jetzt besprechen. Selbstverständlich konnte kein Arzt etwas dafür, dass der Wissensstand einfach noch nicht so fortgeschritten war. Ich finde es allerdings durchaus verwerflich, was daraus für die Patienten folgte, denn die Unmenschlichkeit der Behandlung hätte auch für die Ärzte mit ihrem damaligen Wissensstand offensichtlich sein müssen, sowohl in Bezug auf die angewandten Therapien als auch in Bezug auf die Lebensumstände in den Anstalten. Allein die Tatsache, dass Gefängnisinsassen damals oft besser behandelt wurden als Insassen einer psychiatrischen Anstalt, spricht Bände. Wann immer ich über das Thema gelesen habe, hatte ich den Eindruck, dass eine Heilung letztendlich gar nicht im Vordergrund stand. Es ging darum, die Patienten möglichst ruhig zu stellen. Vielleicht war „unqualifiziert“ eine etwas ungünstige Wortwahl, um auszudrücken, was ich meine.
Solltest du dich wirklich für das Thema interessieren, würde ich dir neben „Die dunklen Mauern von Willard State“ die Reportage „Ten Days in a Madhouse“ von Nellie Bly empfehlen. Diese ist zwar etwas früher angesiedelt, Ende der 1880er Jahre, aber die Bedingungen in den Anstalten haben sich leider viele Jahrzehnte kaum verbessert, weshalb die Reportage einen guten Einblick in die Zustände gibt. Ich denke, nach der Lektüre beider Bücher kannst du sicher besser nachvollziehen, warum ich mich für die Formulierung „unqualifiziert“ entschieden habe. :)
Vielen Danke noch für die nachgereichten Jahreszahlen. :)
Gern geschehen. :)
[…] Danke Ellli, dass Du uns noch einmal motiviert hast! Ihr tolle Rezi könnt Ihr auf ihrem Blog […]
[…] Seiten) gelesen, weil ich wissen wollte, wie realistisch die Umstände in Ellen Marie Wisemans Buch „Die dunklen Mauern von Willard State“, das ich früher im Jahr gelesen habe, dargestellt sind. Ich kam zu dem Schluss, dass sich Wiseman […]