Marie Lu – Prodigy

Cover des Buches "Prodigy" von Marie Lu

Reihe: Legend #2

Autor_in: Marie Lu

Format: Taschenbuch

Seitenzahl: 356 Seiten

Verlag: Penguin

Sprache: Englisch

ISBN-10: 0141339578

Genre: Science-Fiction > Dystopie > Young Adult

Ausgelesen: 17.12.2014

Bewertung: ★★★★☆

Marie Lu hat vor ihrer Karriere als Autorin in der Videospiel-Branche gearbeitet. Sie hat dabei geholfen, Spiele zu entwickeln. Ich muss es gestehen, das bringt ihr bei mir einige Sympathiepunkte ein. Was genau sie gemacht hat, weiß ich leider nicht, aber die Vorstellung, dass sie möglicherweise an Spielen beteiligt war, die ich selbst auch gern zocke, ist schon sehr cool. Außerdem spielt sie leidenschaftlich gern „Assassin‘s Creed“. Kein Wunder also, dass Day mühelos Häuserwände erklimmen kann. ;)

Dank June konnte Day seiner eigenen Hinrichtung entkommen – wenn auch zu einem entsetzlichen Preis. Nun sind sie auf der Flucht in Richtung Nevada. Sie hoffen, in Las Vegas die Patriots ausfindig zu machen, um erneut ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Day möchte wissen, was aus Tess geworden ist, die sich den Rebellen zwangsläufig anschließen musste, als er selbst von der Republik gefangen genommen wurde. Außerdem braucht er Hilfe, um herauszufinden, wohin die Republik seinen kleinen Bruder Eden gebracht hat und sein verletztes Bein muss dringend behandelt werden. Tatsächlich gelingt es den beiden, zum Anführer der Patriots gebracht zu werden. Razor bietet ihnen Hilfe an – allerdings nicht umsonst. Seine Bedingung stellt vor allem June auf eine harte Probe: sie und Day sollen dabei helfen, den Elector der Republik zu ermorden. Kann June ein ganzes Leben der Loyalität hinter sich lassen und tun, was Razor und Day von ihr verlangen?

Eine so deutliche Steigerung innerhalb einer Trilogie wie in „Legend“ erlebe ich sehr selten. Noch seltener tritt diese Verbesserung im zweiten Band auf, der ja erfahrungsgemäß oft der schwächste der Reihe ist. Ich war baff, dass mich „Prodigy“ so positiv überraschen konnte. Marie Lu zieht das Tempo an, sie erklärt Hintergründe und schenkt ihren ProtagonistInnen eine individuelle Persönlichkeit. Alles, was mir im ersten Band „Legend“ gefehlt hat, holt sie im zweiten Band nach. Mit Blick auf die Handlung und den Spannungsbogen würde ich mich sogar dazu hinreißen lassen, zu sagen, dass „Prodigy“ eher den Eindruck eines Finales bei mir hinterließ als den Eindruck eines mittleren Bandes. Das hat mich beeindruckt und ich bin froh, dass ich „Legend“ noch eine Chance gegeben habe.
Anders als beispielsweise Ally Condie baut Marie Lu ihre Dystopie kontinuierlich auf; Stück für Stück fügen sich immer mehr Puzzleteile zusammen. Sie nimmt sich Zeit, erklärt von innen nach außen. In „Legend“ zeigte sie, wie die Lebensrealität innerhalb der Republik aussieht. In „Prodigy“ fügt sie geschichtliche Fakten hinzu und stellt dar, wie sich diese Gesellschaft überhaupt entwickeln konnte, welche Ereignisse zur Spaltung der USA führten. Darüber hinaus lässt sie ihre LeserInnen einen Blick in die Kolonien werfen, in denen auch nicht alles ideal abläuft. Es ist nicht das Paradies, an das die Menschen der Republik glauben möchten. Ich fand es toll, dass Marie Lu von einer schwarz-weißen Betrachtungsweise Abstand nimmt und stattdessen auf die vielen Graustufen gesellschaftlicher Systeme hinweist. Weder in der Republik noch in den Kolonien ist alles ausschließlich gut oder schlecht, stattdessen liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Mit dieser gut durchdachten, ambivalenten Auslegung habe ich definitiv nicht gerechnet.
Am überzeugendsten fand ich die Entwicklung der Charaktere. Kamen mir June und Day erst wie ein wenig origineller Abklatsch von Romeo und Julia vor, sind sie nun eigenständige Figuren. June hat einen genialen analytischen Verstand und eine extrem hohe, schnelle Auffassungsgabe, die sogar kleinste Details korrekt verarbeitet. Dafür ist sie jedoch sehr unbeholfen in Bezug auf soziale Kontakte. Sie tut sich schwer damit, ihre Gefühle auszudrücken und tritt des Öfteren in das eine oder andere Fettnäpfchen. In Day hingegen brodeln seine Gefühle stets direkt unter seiner Haut. Ihm fällt der Umgang mit anderen Menschen leichter als June, im Vergleich zu ihr ist er aber auch weniger aufmerksam. Mir kommen sie wie Feuer und Wasser vor, allerdings nicht auf negative Art und Weise. Vielmehr ergänzen sie sich faszinierend umfassend und gleichen so ihre Schwächen aus. Day ist brennende Leidenschaft, June ist kühl und unerbittlich – gemeinsam sind sie doppelt stark, wild und unzähmbar. Ich finde das großartig, weil Marie Lu ein perfekt aufeinander abgestimmtes Paar geschaffen hat. Ihre Abenteuer stellen ihre Freundschaft auf die Probe, können das Band zwischen ihnen jedoch nicht zerreißen, weil ihre Schicksale unentwirrbar in einander verschlungen sind.

Marie Lu hat mich mit „Prodigy“ von ihrem Können als Autorin überzeugt. Obwohl ich „Legend“ als Auftakt der Trilogie nur mäßig beeindruckend fand, offenbart der zweite Band nicht nur eine glaubhafte und plausibel konstruierte Dystopie, sondern auch das Potential der beiden Hauptcharaktere. „Prodigy“ ist spannend und mitreißend, ich konnte mich seinem Sog einfach nicht entziehen und bin nun vollends in der Geschichte angekommen. Ich bin sehr neugierig, wie es im Finale „Champion“ weitergeht.
Solltet ihr euch für die „Legend“ – Trilogie interessieren und mit dem Gedanken spielen, sie zu lesen, müsst ihr mit dem ersten Band beginnen, sonst ergibt die Fortsetzung keinen Sinn. Lasst euch jedoch nicht davon einschüchtern, sollte „Legend“ auf euch wenig innovativ wirken. Ich versichere euch, es wird besser. June und Day sind keine neuen Versionen von Romeo und Julia – sie sind Naturgewalten.

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