Montagsfrage: Was ist in der Literatur tabu?

Hallo ihr Lieben! :)

Deutschland hat gewählt. Wisst ihr, obwohl der Prozess des Wählens eigentlich ziemlich unspektakulär abläuft, empfinde ich immer noch Ehrfurcht, nachdem ich meine Kreuze gesetzt habe. Es bereitet mir einfach eine Gänsehaut, dass ich das Recht habe, zu wählen, während Millionen anderen Menschen (und besonders Frauen) auf der Welt dieses Recht nicht zugestanden wird. Deshalb kam die Briefwahl für mich auch dieses Jahr trotz Corona überhaupt nicht in Frage. Bin ich in Berlin am Wahlsonntag, ist der Gang ins Wahllokal der erste Tagesordnungspunkt. Das kann natürlich jede_r halten, wie er_sie will, aber um die Demokratie als das großartige System ehren zu können, das ist sie im Prinzip ist, brauche ich dieses Ritual. Ich finde das weder lästig noch unbequem, sondern freue mich regelrecht darauf. Ich übe mein Wahlrecht mit Überzeugung und Leidenschaft aus und das könnte ich nicht gebührend feiern, wenn ich still für mich allein zu Hause die Briefwahlunterlagen ausfüllen würde. Wie empfindet ihr das? Habt ihr – sofern ihr (bereits) wahlberechtigt seid – dieses Jahr die Briefwahl dem Gang ins Wahllokal vorgezogen? Und wenn ja, lag das an Corona oder findet ihr es einfach bequemer?

Über die Wahlergebnisse möchte ich mich heute nicht ausufernd äußern, darüber werden wir in der nächsten Zeit wohl noch mehr als genug hören und lesen. Nur so viel: Ich bin enttäuscht, dass das deutsche Volk die Gelegenheit zum Wandel nicht so offen willkommen heißt, wie ich es mir gewünscht hätte.

Die Montagsfrage von Antonia von Lauter&Leise fällt heute eigentlich krankheitsbedingt aus. Durch meine Sommerpause gibt es aber noch einige Fragen, die ich bisher nicht beantwortet habe. Davon habe ich mir eine herausgesucht:

Tabuthemen in der Literatur?

Antonia hat bei der Formulierung dieser Frage weise auf das Verb verzichtet und gibt uns so den größtmöglichen Spielraum, sie zu interpretieren. Gibt es literarische Tabuthemen? Sollte es literarische Tabuthemen geben? Muss es literarische Tabuthemen vielleicht sogar geben?

Im Prinzip glaube ich, es gibt kein Thema, über das nicht geschrieben werden darf. Egal wie unangenehm, egal wie grenzwertig, egal wie brutal, egal wie strafbar – jedes Thema ist eine Facette unserer Spezies und unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Es ist wichtig, dass wir die gesamte Bandbreite menschlicher Verhaltensweisen und Gefühle reflektieren, um uns selbst besser zu verstehen. Literatur kann dabei helfen. Aber.

Natürlich gibt es ein Aber und noch dazu ein fettes, das auch Antonia bereits ausgeführt hat: Es ist entscheidend, wie über diese Themen geschrieben wird. Niemand würde akzeptieren, dass ein_e Autor_in den Zweiten Weltkrieg glorifizierend beschreibt. Niemand würde ein Buch feiern, das für weibliche Beschneidung argumentiert. Niemand möchte ein Buch lesen, das Gewalt an Kindern verharmlost. Meiner Ansicht nach dürfen nicht Themen tabuisiert werden, sondern bestimmte Herangehensweisen an diese Themen.

Da es sich anbietet, möchte ich hier als Beispiel meine Meinung über Vergewaltigung als literarisches Thema ausführen. Vor Jahren habe ich einen Blogbeitrag des Autors Robert Jackson Bennett gelesen, in dem er darlegt, warum Vergewaltigungen in der Literatur äußerst problematisch sind. Er hat mir die Augen geöffnet. In vielen Geschichten, darunter „A Song of Ice and Fire“ von George R. R. Martin, werden Vergewaltigungsszenen eingesetzt, um entweder Aussagen über das Worldbuilding oder über den_die Täter_in zu treffen bzw. sie zu untermauern. Das ist falsch. Warum ist es falsch? Weil ein komplexes und sensibles Thema wie Vergewaltigung niemals dazu missbraucht werden sollte, den Leser_innen unter die Nase zu reiben, wie grauenhaft diese Welt oder diese Figur ist. Sich auf diese beiden Aspekte zu beschränken, klammert sowohl die gesellschaftlichen Strukturen aus, die eine Vergewaltigung überhaupt möglich machen, als auch die Erlebenswelt des_der Betroffenen. Plant der_die Schriftsteller_in nicht, diese Facetten zu beleuchten, verharmlost er_sie dieses Verbrechen.

Ohne eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesem Thema ist die Involvierung einer Vergewaltigungsszene in den allermeisten Fällen komplett unnötig und trägt nur dazu bei, Vergewaltigungsmythen zu festigen. Leser_innen verstehen auch ohne die Beschreibung sexualisierter Gewalt, dass eine Welt gesetzlos ist. Sie können auch ohne eine solche Darstellung begreifen, was der_die Täter_in für eine Person ist. Es ist nicht richtig, einen so tiefgreifenden Übergriff, dem dermaßen komplizierte Dynamiken vorausgehen, beiläufig in die Handlung einfließen zu lassen, als wäre unter diesen Umständen einfach zu erwarten, dass sich Menschen (oder auch Nicht-Menschen) so verhalten. Dadurch wird, wie es Bennett sehr treffend formuliert, ein neuer Standard etabliert, der die sogenannte Rape Culture fördert, weil Leser_innen dazu gebracht werden, Vergewaltigung nicht als komplexe Eskalation zu begreifen, sondern als vorhersehbare Entwicklung, die genutzt werden kann, um einen Punkt, der bereits offensichtlich ist, erneut zu unterstreichen.

Das heißt nicht, dass niemand über Vergewaltigungen schreiben darf. Es heißt nur, wer sich entscheidet, eine Vergewaltigung als Teil der Handlung zu intergrieren, sollte mit extrem viel Fingerspitzengefühl vorgehen und sich darüber im Klaren sein, wie facettenreich dieses Thema ist. Es geht um Sensibilität – einerseits für gesellschaftliche Strukturen, andererseits für die Betroffenen. Die Herangehensweise ist entscheidend.

Wie steht ihr zu Tabuthemen in der Literatur?

Ich freue mich wie immer sehr auf eure Beiträge und Kommentare und wünsche euch allen einen optimistischen Start in die neue Woche!
Alles Liebe,
Elli ❤️

Bewerte diesen Beitrag!