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Ein unpolitischer Preis für politische Menschen?

Heute beschäftigen wir uns mit den bisherigen Literaturnobelpreisträger_innen. Wir wollen untersuchen, welche Menschen in der Vergangenheit mit dieser prestigeträchtigen Auszeichnung geehrt wurden und welche Ideale sie verkörperten. Schauen wir doch mal, was die Schwedische Akademie in ihnen sah.

Der Literaturnobelpreis wurde erstmals 1901 vergeben. Seitdem wurde er insgesamt 112 Mal an 116 Preisträger_innen verliehen (Wir erinnern uns, mit jedem Nobelpreis können maximal drei Personen geehrt werden; für die Literatur wurde er bisher allerdings höchstens an zwei Autor_innen vergeben, noch nie an drei.) 15 Preisträger_innen waren Frauen, das entspricht einer Quote von 12,9%. In sieben Jahren wurde die Verleihung komplett ausgesetzt (also auch nicht nachgeholt), vornehmlich aus politischen Gründen des Zeitgeschehens: 1914, 1918, 1935, 1940, 1941, 1942 und 1943. Der Preis wurde nur einmal abgelehnt, 1964 von Jean-Paul Sartre, der grundsätzlich alle Auszeichnungen verweigerte. 1958 hatte Boris Pasternak den Preis erhalten und akzeptiert, wurde jedoch später vom Regime der Sowjetunion gezwungen, diesen abzulehnen. Die Nobelstiftung wertet diese Ablehnung deshalb gesondert.

Im exklusiven Kreis der Preisträger_innen finden sich überwiegend politisch und sozial hochengagierte Menschen, die für Pazifismus, Gerechtigkeit und Humanität eintraten und sich gegen Nationalsozialismus, Krieg und rückwärtsgewandte Strömungen aussprachen. Die Schwedin Selma Lagerlöf, 1909 erste weibliche Preisträgerin, unterstütze 1933 das Komitee zur Rettung jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und half 1940 der jüdischen Autorin Nelly Sachs, die später selbst mit dem Preis geehrt wurde, nach Schweden zu fliehen. Hermann Hesse versorgte deutsche Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg mit Büchern. William Faulkner spendete einen Teil seines Preisgeldes, um afroamerikanischen Kindern eine Schuldbildung zu ermöglichen und Bertrand Russel wurde selbst im hohen Alter von 89 Jahren noch als Kriegsgegner verhaftet. Obwohl die Begründungen der einzelnen Verleihungen meiner Meinung nach kolossal nichtssagend sind und sich darüber hinaus bis auf wenige Ausnahmen stark ähneln, wirken die meisten der Geehrten wie couragierte, bemerkenswerte Personen, die zurecht ausgezeichnet wurden.

Dennoch äußern sich die Statuten der Nobelstiftung nicht zur menschlichen Qualität der Preisträger_innen. Das heißt, im Grunde spricht nichts dagegen, zum Beispiel einen Kriegsverbrecher auszuzeichnen, solange dessen literarisches Werk – wie von Alfred Nobel verlangt – herausragend idealistisch oder wertvoll ist. Moralische oder ethische Aspekte werden von den Statuten nur indirekt abgedeckt. Es ist implizit, dass Nobel ehrenwerte Literat_innen auszeichnen wollte, die hohe Ideale vertreten, aber explizit steht nirgendwo, welche Ideale und Menschen das sein sollen. Demzufolge ist das Nobelkomitee für Literatur der Schwedischen Akademie nicht verpflichtet, sich mit den Biografien der Nominierten auseinanderzusetzen. Sie müssen lediglich begründen können, warum das Werk einer Person ihrer Meinung nach eine Auszeichnung verdient.

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Daraus ergibt sich eine Diskussion, die so alt ist wie die Kunst selbst: kann man Werk und Schöpfer_in trennen? Sollte man sie trennen? Ist die Kunst nicht immer die öffentliche Erweiterung der Persönlichkeit des oder der Kunstschaffenden? Kann ein künstlerisches Werk tatsächlich unabhängig bewertet werden? Wenn sie untrennbar sind, bedeutet das im Umkehrschluss, dass man Bücher von Menschen, die als Privatpersonen fragwürdige Charaktereigenschaften offenbarten, nicht mehr lesen darf?

Ich glaube nicht, dass man Bücher nicht lesen darf, weil sie von Autor_innen geschrieben wurden, die grenzwertige Ansichten vertreten bzw. vertraten oder schwer nachvollziehbare Entscheidungen treffen bzw. trafen. Trotzdem bin ich fest überzeugt, dass das Wissen um ihre persönlichen Fehler, politischen Überzeugungen und ganz allgemein ihre Biografien in die Wahrnehmung der Lektüre einfließen muss. Das mag nun nicht für jeden kleinen Groschenroman gelten, den man günstig auf dem Mängelexemplar-Wühltisch ergattert und der lediglich dazu dienen soll, ein paar Stunden Unterhaltung zu vermitteln, aber im Rahmen des Literaturnobelpreises, der sich ja anschickt, (zukünftige) Weltliteratur auszuzeichnen, erscheint mir eine Kontextanalyse, die das Leben des Autors oder der Autorin einschließt, unverzichtbar. Wer der Welt einen Stempel aufdrücken und „große“ Literatur schaffen will, muss es sich gefallen lassen, genauer unter die Lupe genommen zu werden.

Glücklicherweise sind es nur eine Handvoll Schriftsteller_innen, die mir bei meiner Sichtung aller Preisträger_innen unangenehm aufgefallen sind. Das überraschte mich, denn eigentlich hatte ich damit gerechnet, deutlich mehr Leichen auszugraben. Oh, natürlich gibt es sie, die zweifelhaften Persönlichkeiten, in deren Lebensläufen der eine oder andere Schandfleck zu finden ist. Luigi Pirandello (1934) war sein Leben lang Mitglied der faschistischen Partei in Italien. T.S. Eliot (1948) veröffentlichte vor seiner Auszeichnung Schriften, die als entschieden antisemitisch aufgenommen wurden und verlangte eine Weltordnung, die sich strikt an christlichen Werten orientierte. Ernest Hemingway (1954) hatte ein gespanntes Verhältnis zu Frauen, war dem Alkohol sehr zugesprochen und beging Selbstmord. Über Pablo Neruda (1971) wurde posthum bekannt, dass er 1929 eine Frau vergewaltigt haben soll, als er Konsul in Ceylon war. Gabriel García Márquez (1982) war eng mit Fidel Castro befreundet. Der Ägypter Nagib Mahfuz (1988) unterstütze 1996 den Holocaustleugner Roger Garaudy bei der Veröffentlichung seines skandalösen Buches „Die Gründungsmythen der israelischen Politik“, ohne sich von dessen Ansichten zu distanzieren und Elfriede Jelinek (2004) setzte sich offen für den zu lebenslanger Haft verurteilten und im Gefängnis zum Schriftsteller gewordenen Mörder Jack Unterweger ein, der nach seiner Entlassung 1990 erneut mehrfach mordete. Doch diese Fälle sind die Ausnahme, nicht die Regel und betreffen häufig Phasen im Leben der Schriftsteller_innen nach ihrer Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis.

Stattdessen wurde mir bewusst, dass der Kern der Problematik hinsichtlich der Auszeichnung von Schriftsteller_innen mit dem Literaturnobelpreis nicht bei den Kandidat_innen liegt, sondern bei dem Nobelkomitee der Schwedischen Akademie. Ich stellte fest, dass sie sich ihre Aufgabe selbst unnötig schwer machen, weil sie einem Paradoxon erlegen sind.

Bis heute wehrt sich die Schwedische Akademie mit Händen und Füßen dagegen, dass die Vergabe des Literaturnobelpreises als politisch motiviert wahrgenommen wird. Sie versteht sich als unpolitische Institution und möchte nicht, dass ihr eine politische Agenda unterstellt wird. Dafür ist sie sogar bereit, schlechte Presse und interne Streitigkeiten in Kauf zu nehmen. Als 1989 eine Fatwa über Salman Rushdie verhängt wurde, weigerte sich die Akademie, sich öffentlich dazu zu äußern – auf Kosten der Mitarbeit mehrerer Mitglieder, die den Sitzungen aus Protest fernblieben. Die Anstrengungen, die die Akademie unternimmt, um bloß nicht als politisch eingestuft zu werden, sind meiner Meinung nach völliger Unsinn und widersprechen ihrem Auftrag als Auswahlkomitee des Literaturnobelpreises. Alfred Nobel erwartete von ihnen, dass sie diejenigen Personen auszeichnen, die im letzten Jahr das herausragendste idealistische Werk veröffentlichten. „Idealismus“ hat meiner intuitiven Definition zufolge immer eine politische Note und die meisten bisherigen Preisträger_innen waren, wie bereits erörtert, durchaus politisch sehr interessiert und engagiert. Selbstverständlich flossen ihre Überzeugungen in ihre Werke ein – in vielen Fällen war es ihr politisches Bewusstsein, das sie überhaupt erst für den Literaturnobelpreis in Frage kommen ließ.

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Ein passendes Beispiel ist Herta Müller, die 2009 ausgezeichnet wurde. Das Nobelkomitee begründete seine Entscheidung mit folgenden Worten: „die, mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit darstellt“. Das Schlüsselwort in dieser Würdigung ist „Heimatlosigkeit“. Mit Mitte 30 wanderte Müller 1987 von Rumänien nach Deutschland aus. Dieser Schritt hatte sicherlich mit der Behandlung zu tun, die sie in ihrem Geburtsland erfahren hatte, denn sie war jahrelang von der Securitate, der Geheimpolizei unter der Diktatur des sozialistischen Staatspräsidenten Nicolae Ceaușescu, drangsaliert und diskreditiert worden. Ihr erstes Buch „Niederungen“ wurde Opfer der Zensur, um 1982 überhaupt in Rumänien erscheinen zu können. In Deutschland veröffentlichte sie 1989 den Roman „Reisende auf einem Bein“, der von der Mittdreißigerin Irene handelt, die ihr vom Militär regiertes Heimatland verlässt, um sich in Westdeutschland ein neues Leben aufzubauen. Doch Irene findet sich in der ungewohnten Umgebung nicht zurecht und empfindet sich stets als Außenseiterin, die nur beobachtet, statt teilzunehmen. Ich lehne mich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte (ohne das Buch selbst gelesen zu haben), dass Herta Müller hier ihre eigenen Erfahrungen verarbeitete. Die kommunistische Diktatur in Rumänien fand thematisch immer wieder Einzug in ihre Werke und die norwegische Literaturwissenschaftlerin Sissel Lægreid bezeichnete ihre Poetik als „ästhetisch inszeniertes Widerstandsmanöver“. Demzufolge hat Herta Müllers Schaffen eine entschieden politische Nuance, die dessen Bedeutsamkeit determiniert und ihren Schreibstil maßgeblich beeinflusst, weil sie Sprache als Werkzeug begreift. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies dem Nobelkomitee der Schwedischen Akademie entgangen ist, obwohl die Begründung ihrer Auszeichnung meiner Ansicht nach bewusst vage gehalten ist.

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Herta Müller ist nur eine der vielen Literaturnobelpreisträger_innen, die politische Themen in ihren Werken aufbereiteten und deren Leben von politischen Umständen bestimmt wurden. 1958 wurde Boris Pasternak, dessen bekanntester Roman „Doktor Schiwago“ in euren Köpfen vielleicht ein Glöckchen klingeln lässt, von der Regierung der Sowjetunion genötigt, den Literaturnobelpreis abzulehnen. „Doktor Schiwago“ beschreibt den intellektuellen Konflikt des Protagonisten mit der Oktoberrevolution und der sozialistischen Realität nach 1917. Das Buch musste 1958 im Ausland erscheinen, weil es in der UdSSR als systemkritisch wahrgenommen wurde. Ich bezweifle, dass es ein Zufall ist, dass er im selben Jahr den Literaturnobelpreis erhalten sollte, denn zuvor hatte er mehr als 10 Jahre nichts veröffentlicht. Damit hatte die missglückte Auszeichnung für Boris Pasternak eine politische Ebene, die sich meiner Ansicht nach sieben Jahre später erneut manifestierte, weil der Preisträger von 1965 Michail Scholochow war.

Michail Scholochow ist ein außerordentlich umstrittenes Beispiel für die Verstrickung eines Schriftstellers mit dem Regime der Sowjetunion. Er war ein systemtreuer Autor, der den Literaturnobelpreis für sein Hauptwerk „Der stille Don“ erhielt. Einige Stimmen sehen in seiner Ehrung eine Art Wiedergutmachung des Nobelkomitees, denn mit ihrer Entscheidung für Scholochow konnten sie sicher sein, dass der Preis von der Sowjetunion angenommen werden würde. Allerdings steht „Der stille Don“ seit den 70er Jahren – und meines Wissens nach bis heute – unter dem Verdacht, ein Plagiat zu sein. Angeblich basiert es auf unveröffentlichten, verschollenen Aufzeichnungen des kosakischen antibolschewistischen Autors Fjodor Krjukow. Um diesen Vorwurf ranken sich wildeste Behauptungen; es existiert eine Verschwörungstheorie, laut der Scholochow erstens keines seiner bedeutendsten Manuskripte selbst geschrieben und ihn der sowjetische Geheimdienst zweitens gezielt als erfolgreichen Schriftsteller etabliert haben soll, dem ein ganzes „Autorenkollektiv“ beim Verfassen des „Don“ unter die Arme griff. Andere sehen darin eine Schmutzkampagne gegen den linientreuen Scholochow, die unter anderem von Alexander Solschenizyn als Racheakt forciert wurde, weil Scholochow an dessen Diskreditierung als systemkritischer Autor beteiligt war. Solschenizyn, der auf eine lange, komplizierte Geschichte mit seinem Heimatland zurückblickte, die von Verbannung und Zwangsarbeit gezeichnet war, wurde 1970 ebenfalls mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet und erlangte ab 2002 traurige Popularität, weil er in seinem historischen Epos „Zweihundert Jahre zusammen“ die Rolle der jüdischen Bevölkerung in der russischen Gesellschaft analysierte und dabei antisemitische Tendenzen zeigte.

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Darüber hinaus fiel mir bei der Recherche der bisherigen Literaturnobelpreisträger_innen auf, dass viele in ihren Werken das Konzept von Heimat behandel(te)n und explizit dafür geehrt wurden, besonders in den früheren Jahrzehnten. Damit meine ich nicht ausschließlich landschaftliche Beschreibungen, obwohl auch diese eine Rolle spielen. Vielmehr beziehe ich mich auf nationale Identität, auf Mentalität und Lebensgefühl, das viele Autor_innen untersuchten, abbildeten und zu definieren versuchten, oftmals aus kritischen Perspektiven. Heimat und Heimatgefühle sind niemals trivial, sondern immer komplex und facettenreich und Politik hat darauf natürlich einen Einfluss, denn sie formt die greifbare Realität eines Ortes, eines Landes, einer Nation.

Ich könnte diese Beweisführung, die darlegen soll, dass die Vergabe des Literaturnobelpreises stets politische Aspekte wiederspiegelte, noch ewig weiterführen. Ich möchte allerdings davon absehen, Fallbeispiel für Fallbeispiel mit euch durchzugehen, denn ich glaube, mein Punkt ist deutlich geworden. Ich finde es töricht und naiv, dass die Schwedische Akademie immer noch glaubt, sie könne sich und die Literaturnobelpreisvergabe als unpolitisch darstellen. Sie war es nie und meinem Empfinden nach wurde das Komitee immer dann, wenn es sich für „die sichere Wahl“ entschied, dafür kritisiert, der Trivialität bzw. Banalität den Vorzug gegeben zu haben, zum Beispiel anlässlich der Ehrung von Dario Fo 1997 und Elfriede Jelinek 2004. Die strittige Auszeichnung von Pearl S. Buck 1938 wird in der Fachwelt noch heute als „Lex Buck“ bezeichnet, weil der Vorwurf literarischer Wertlosigkeit die inoffizielle Regel initiierte, dass alle Preisträger_innen zuvor mindestens einmal nominiert worden sein müssen.

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Man kann Politik nicht aus Werken heraushalten, die potenzielles Nobelpreismaterial sind und es ist wichtig, dass die Kunst sich bemüht, politische Gegebenheiten zu porträtieren. Das ist ihre Aufgabe. Die Weigerung der Schwedischen Akademie, die politischen Aspekte der Vergabe anzuerkennen, wirkt heuchlerisch und führt dazu, dass fragwürdige Entscheidungen getroffen werden. Mittlerweile werden nur noch selten konkrete Veröffentlichungen geehrt, meist ist es das Lebenswerk, für das die Preisträger_innen ausgezeichnet werden. Dadurch müsste das Komitee erst recht doppelt und dreifach überprüfen, wen sie da würdigen und politischen Überzeugungen besondere Aufmerksamkeit schenken, um zu vermeiden, ganze Menschengruppen mit ihrer Wahl zu verletzen. Sonst passiert nämlich genau das, was dieses Jahr rund um die Verleihung an Peter Handke geschehen ist, ein spezieller Fall, den wir uns morgen ausführlich zur Brust nehmen werden.

Alles Liebe,
Elli ❤️

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