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Ein Plädoyer für die Abschaffung des Literaturnobelpreises

Heute präsentiere ich euch den letzten Beitrag zur Thematik des Literaturnobelpreises. Halleluja, ein Ende ist in Sicht! Ich hoffe, ihr seid bereit für das große Finale, denn obwohl auch ich froh bin, wenn ich mich erneut dem normalen Blogalltag widmen und endlich wieder eine Rezension schreiben kann (Ich vermisse das wirklich!), ist dieser Post für mich ohne Zweifel der wichtigste der ganzen Serie. Heute resümiere ich all die Fakten, die wir in den letzten vier Tagen zusammengetragen haben und stelle euch anhand der Argumente, die sich aus den einzelnen Beiträgen für mich ergaben, mein Fazit vor. Ich werde euch erklären, warum ich glaube, dass der Literaturnobelpreis abgeschafft werden sollte. Schenkt mir ein letztes Mal eure Aufmerksamkeit, es wird Zeit für ein harsches Urteil.

Im ersten Kapitel «Erbschaft mit Folgen» haben wir uns mit dem Testament von Alfred Nobel beschäftigt, das der Auslöser für die Vergabe der Nobelpreise war. Wir haben die Struktur der von ihm verfügten und finanzierten Nobelstiftung aufgeschlüsselt, ihre Zusammenarbeit mit den einzelnen Einrichtungen, die die Preise verleihen, analysiert und die relevanten Statuten für den Vergabeprozess gesichtet. Kurz: Wir haben die rechtliche und organisatorische Basis für die Nobelpreisvergabe allgemein und für die Literaturnobelpreisverleihung im Speziellen identifiziert. Bereits diese nüchterne Faktensammlung offenbarte mir einige problematische Punkte, die das Prozedere meiner Ansicht nach ernsthaft belasten.

Alfred Nobels Testament ist unpräzise. Das Dokument nennt zwar seine Wünsche, es trifft jedoch kaum Aussagen über die konkrete Umsetzung dieser Wünsche. Wir wissen, dass er Personen auszeichnen wollte, die in ihren Bereichen bedeutende Arbeit leisten und dafür die Gründung einer Stiftung verlangte, aber wir wissen nicht, ob die heutige Vergabe exakt dem entspricht, was er sich vorstellte. Demzufolge basieren sowohl die Nobelstiftung als auch die Statuten, die die Regeln für die reelle Verleihung festlegen, auf Vermutungen. Nun verstehe ich natürlich, dass sein testamentarischer Wille irgendwie ausgeführt werden muss und ich glaube auch, dass die dafür formulierten Statuten diesem ziemlich nahe kommen, doch ich finde es schwierig, dass ein Preis, der den Gewinner_innen gewaltiges internationales Ansehen verschafft und ihnen darüber hinaus eine erhebliche finanzielle Vergütung zuspricht, auf Vermutungen fußt.

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Dies mag in den rein naturwissenschaftlichen Feldern Physik, Chemie und Medizin weniger von Belang sein, weil es sich im Rahmen dieser um messbare Erfolge handelt, die prämiert werden. Den Friedensnobelpreis wollen wir an dieser Stelle bequem ausklammern, denn dieser würde sicher eine eigene Beitragsreihe rechtfertigen. In Bezug auf den Literaturnobelpreis ist die mangelnde Präzision des Testaments und der Statuten, die ebenfalls recht schwammig entworfen sind, hingegen heikel, weil Kunst eben nicht messbar ist. Kunst ist subjektiv, sie liefert keine bahnbrechenden Entdeckungen, die objektiv beurteilt werden können. Es ist nicht eindeutig, was Alfred Nobel meinte, als er schrieb, es sollte die Person ausgezeichnet werden, die im vergangenen Jahr „das herausragendste Werk in idealistischer Richtung“ vorgelegt hat. Wie definiert man „herausragend“? Wie „idealistisch“? Welche Aspekte sollten eine Rolle spielen? Für mich verschärft sich die Situation zusätzlich, weil Literaturnobelpreisträger_innen mit derselben Geldsumme bedacht werden wie ihre Kolleg_innen aus anderen Disziplinen, ohne dass erkennbar wäre, welchem Zweck diese Finanzspritze dienen soll. Obwohl sich Nobel auch diesbezüglich bedeckt hielt, kann man davon ausgehen, dass sein Erbe die Forschung in Physik, Chemie und Medizin sowie globale Friedensbemühungen unterstützen sollte. Was er von den Preisträger_innen in der Kategorie Literatur erwartete, ist hingegen komplett unklar. Sie erhalten das Geld einfach so, für sich selbst, weil ihre Kunst ungenauen Ansprüchen gerecht wird, die Nobel nie detailliert beschrieb.

Die Auslegung von Nobels Anforderung überlässt die Nobelstiftung voll und ganz der Schwedischen Akademie. Der einzige Punkt, den sie der Akademie vorschreibt, ist, wer berechtigt ist, mögliche Kandidat_innen zu nominieren. Dabei handelt es sich strikt um Fachpersonal und ehemalige Preisträger_innen. Ich sehe sowohl die freie Hand der Akademie als auch die Vorgabe hinsichtlich des Nominierungsprozesses als kritisch, weil die in Frage kommenden Optionen für den Literaturnobelpreis dadurch automatisch auf die persönlichen Meinungen sehr weniger Personen begrenzt werden. Auf der Welt leben aktuell etwa 7,7 Milliarden Menschen. Nicht alle haben Zugang zu Literatur, nicht alle interessieren sich für Literatur. Dennoch bedeutet das Auswahlverfahren der Literaturnobelpeisträger_innen, dass, schließt man die etwa 700 Personen ein, die um Vorschläge gebeten werden, ein winziger, klitzekleiner Bruchteil der Weltbevölkerung (etwa 0,00001 %, selbst wenn ich großzügig rechne) darüber entscheiden darf, was als große und bedeutsame Literatur gilt. Eine marginale akademische Elite legt fest, was lesenswert ist und die Bezeichnung „Weltliteratur“ verdient. Erkenne ich da als einzige die nicht gegebene Verhältnismäßigkeit?

Des Weiteren ist dieser mikroskopisch anmutende Kreis auch deshalb problematisch, weil nirgendwo festgehalten ist, dass sich dieser zumindest um Repräsentation bemühen muss. Die Statuten verlangen nicht, dass Repräsentant_innen aus jedem Land der Erde befragt werden sollen. Daraus folgt, dass der nationale Horizont der Preisvergabe ebenfalls stark eingeschränkt ist. Geschrieben wird überall, aber es kann ja nur vorgeschlagen werden, was bekannt ist. Überprüft euch selbst: wie viele Autor_innen kennt ihr, die von den Philippinen stammen? Wie viele aus Tansania? Wie viele aus der Mongolei? Jetzt vergleicht diese Zahlen mit Autor_innen aus Deutschland, England und den USA. Ihr seht, nationale Grenzen bestimmen den literarischen Kanon durchaus und die Liste der bisherigen Literaturnobelpreisträger_innen, die ich für das dritte Kapitel «Ein unpolitischer Preis für politische Menschen?» durchgesehen habe, bestätigt dieses Ungleichgewicht unmissverständlich.

Aktuell zählt man auf der Welt 193 Staaten, die Teil der UNO sind. Hinzu kommen der Vatikanstaat und mehrere Staaten, deren Status unklar oder umstritten ist. Der Literaturnobelpreis wurde bei 112 Vergaben an Schriftsteller_innen verliehen, die insgesamt 40 unterschiedliche Nationalitäten präsentierten. Autor_innen, die eine doppelte Staatsbürgerschaft besaßen, werden für die entsprechenden Länder jeweils halb gezählt. Der Preisträger von 1933, Iwan Bunin, galt als staatenlos. Das heißt, geht man nur von der Anzahl offiziell anerkannter Staaten aus, die Mitglieder der UNO sind, wurden bisher gerade mal knapp 21 % der globalen Nationen ausgezeichnet. Europäische Länder und die USA sind hingegen vollkommen überrepräsentiert; die meisten Preisträger_innen kamen aus Frankreich (14,5), dicht gefolgt vom Vereinigten Königreich (12), den USA (10,5) und Deutschland und Schweden an vierter Stelle (jeweils 8).

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Ich glaube nicht, dass diese geringe internationale Vielfalt und stark westliche Ausrichtung bewusst gesteuert sind; ich denke, dabei handelt es sich um eine unabsichtliche Konsequenz des Nominierungsprozesses. Dennoch bleibt der Fakt bestehen, dass Schriftsteller_innen zu vieler Nationen im Dunstkreis des Literaturnobelpreises offenbar gar nicht existieren und das entspricht nicht der globalen literarischen Diversität. Vom geringen Frauenanteil will ich gar nicht erst anfangen, dieser ist schlicht beschämend. Die Tatsache, dass so wenige Personen, deren Auswahl durch ihren eigenen, völlig natürlichen nationalen Horizont beschränkt ist, über den Weltstatus von Literatur entscheiden dürfen, behindert eine realistische Repräsentation.

Außerdem muss es erlaubt sein, die Frage zu stellen, inwiefern die Berechtigung dieser wenigen Personen zur Nominierung eigentlich legitim und gegeben ist. Laut Statuten dürfen Mitglieder der Schwedischen Akademie und ähnlicher Institutionen, Literatur- und Linguistikprofessor_innen, frühere Literaturnobelpreisträger_innen und Vorsitzende von Schriftstellerverbänden mögliche Kandidat_innen nominieren. Ich begreife, dass diese Vorgabe erlassen wurde, um zu verhindern, dass jeder Hinz und Kunz ohne fachliche Expertise die kleine, im Selbstverlag publizierte Schmonzette der eigenen Mutter vorschlägt. Sicherlich erhofft sich die Nobelstiftung, dadurch bereits eine qualitativ hochwertige Vorauswahl zu garantierten und ich gehe davon aus, dass das auch funktioniert. Abgesehen von der schwierigen semantischen Frage, wie „qualitativ hochwertig“ ausgelegt werden sollte, die ich schon angesprochen habe, sehe ich allerdings ein weiteres Problem darin, dass dieser kleine, fachlich orientierte Personenkreis Literatur ausschließlich nach akademischen Gesichtspunkten zu bewerten scheint. Die Folge daraus ist eine fragwürdige Distanz zu durchschnittlichen Leser_innen. Es ist kein Zufall, dass die meisten Bücherwürmer, mit denen ich in meinem Leben gesprochen habe, lediglich einen Bruchteil der bisherigen Literaturnobelpreisträger_innen überhaupt kennt. Deren Bücher landen nun mal vor der Vergabe selten auf Bestsellerlisten (womit ich nicht sagen möchte, dass Bestsellerlisten das Nonplusultra wären). Die meisten erlangen erst weitreichende Popularität, nachdem ihre Schöpfer_innen geehrt wurden. Davor sind sie meiner Einschätzung nach lediglich einer kleinen, elitären Gemeinschaft geläufig – derselben Gemeinschaft, die deren Autor_innen dann für den Literaturnobelpreis nominiert.

Man kann darüber diskutieren, wie zugänglich Kunst sein sollte, ohne jemals zu einem Ergebnis zu gelangen. Da dies jedoch mein Blog und somit meine private Spielwiese ist, habe ich das Privileg, meine persönliche Meinung dazu zum Besten geben und konträre Argumente ignorieren zu können. Meinem Empfinden nach sollte Kunst berühren und verstanden werden. Sie sollte wichtige Themen auf eine Weise behandeln, die es den meisten Menschen erlaubt, zu begreifen, welche Aussage der Künstler oder die Künstlerin treffen möchte. Das gilt für die Literatur ebenso wie für Malerei, Bildhauerei oder Musik. Deshalb halte ich die Strategie der Schwedischen Akademie, Literatur auszuzeichnen, deren Wert lediglich ein spezifisches Milieu mit einem hochspezialisierten Bildungsstand erkennen kann, nicht für sinnvoll. Ich denke, „herausragend idealistische“ Literatur muss nicht automatisch schwer zugänglich oder aus akademischen Gesichtspunkten wertvoll sein. Meiner Ansicht nach ist Nobels Anforderung immer dann Genüge getan, wenn ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin inspirierend über Ideale schreibt und einen formvollendeten, individuellen Schreibstil erkennen lässt, der gezielt eingesetzt wurde. Mir ist klar, dass diese Auslegung ebenso ungenau ist wie die Statuten, die von der Nobelstiftung formuliert wurden. Wahrscheinlich lässt sich eine gewisse Schwammigkeit nicht vermeiden. Der Vorteil meiner Interpretation von Nobels testamentarischer Anweisung besteht darin, dass diese auch Genreliteratur, die die Schwedische Akademie beinahe komplett ausklammert, einschließt. Natürlich lässt sich darüber streiten, ob Genreliteratur eine Auszeichnung vom Format des Nobelpreises verdient. Ich glaube, es gibt Vertreter, die in Frage kämen. Das mögen nicht viele sein und Muttis Schmonzette gehört sicherlich nicht dazu, aber zumindest bestünde grundsätzlich die Möglichkeit einer Ehrung für Thriller, Science-Fiction und Fantasy.

Ich bin überzeugt, dass Genreliteratur von der Schwedischen Akademie berücksichtigt werden sollte, weil es eben genau diese Bücher sind, die sich auf den Nachttischen ganz normaler Leser_innen finden. Es sind diese Bücher, die unsere Leben bereichern, beeinflussen, uns begeistern, lehren und bewegen. Damit möchte ich nicht ausdrücken, dass die im Englischen so gern als „literary fiction“ betitelte, von intellektuellen Akademiker_innen geliebte Literaturgattung Leser_innen nicht berühren würde, keine Berechtigung hätte, für den Literaturnobelpreis nominiert zu werden und gestrichen werden sollte. Nein, keineswegs. Ich glaube lediglich, dass Genreliteratur ebenso wertvoll sein kann und deshalb nicht kategorisch ausgeschlossen werden sollte. Gerade weil Genreliteratur im Alltag der meisten Leser_innen tatsächlich stattfindet, weil sie der Leserealität der meisten Menschen (so sie denn überhaupt lesen) entspricht, sollte sich ein Komitee, das es sich zur Aufgabe macht, bemerkenswerte Literatur auszuzeichnen, dieser Gattung nicht prinzipiell verschließen. Meiner Meinung nach führt genau das zu der aktuellen Situation, dass die meisten Bücherfans trotz ihrer Leidenschaft mit den Entscheidungen des Nobelkomitees wenig anfangen können.

Um Genreliteratur für den Literaturnobelpreis generell zuzulassen, müsste ein Umdenken in der Schwedischen Akademie passieren. Ich empfinde das nicht als Hürde, denn ein Umdenken ist für sie und für die Nobelstiftung ohnehin dringend nötig. Der Skandal um die Schwedische Akademie, der 2018 durch die Presse zog und dem wir uns im zweiten Kapitel «Drama, Schmutz und Skandal» widmeten, zeigt für mich zweifelsfrei, welche gravierenden Lücken das durch die Statuten geregelte Verfahren zur Nobelpreisvergabe aufweist. Letztendlich baut das gesamte Prozedere noch immer darauf, dass sich Menschen ehrenhaft und vertrauenswürdig verhalten. In Zeiten von Alfred Nobel mag es möglich gewesen sein, sich auf die Integrität der auszeichnenden Institute blind zu verlassen – heute ist das nicht mehr der Fall, wie die Schwedische Akademie eindrucksvoll bewies. Die Mitglieder dieser Einrichtung haben jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Ihnen selbst ist ebenso wenig zu trauen wie ihrem Urteil, fachliche Qualifikation hin oder her. Die Tatsache, dass die Konsequenzen für die Akademie trotz der Schwere der Vergehen milde ausfielen, illustriert meiner Ansicht nach darüber hinaus, dass die Nobelstiftung zu wenig Einfluss auf die preisvergebenden Institute geltend machen kann. Im Grunde können sie sich alles erlauben, ohne irgendwelche Repressalien fürchten zu müssen, weil in den Statuten der Stiftung kein Strafenkatalog festgeschrieben ist. Es war nie vorgesehen, dass irgendjemand gegen die Regeln verstößt, daher gibt es auch keine Anleitung, wie sich die Stiftung verhalten kann, wenn sie in diese Lage gerät. Man kann eine Einrichtung, die über bedeutende Beiträge zur globalen Kultur zu entscheiden beansprucht, nicht unkontrolliert agieren lassen, schon gar nicht, wenn ihr Benehmen den Ruf des Nobelpreises beschädigt und das Erbe von Alfred Nobel beschmutzt.

Die konkreten Details des Skandals deuten stark auf ein fragwürdiges Selbstverständnis der Schwedischen Akademie hin. Lieber schützten die Mitglieder durch ihr Schweigen ihre Institution, als einen Verbrecher aufzuhalten. Wenn es je einen Fall falscher Prioritäten gab, dann diesen. Dieses bedenkliche Selbstverständnis äußert sich auch in dem Bestreben der Akademie, um jeden Preis als unpolitisch wahrgenommen zu werden. Wie ignorant und verblendet diese Behauptung ist, haben wir ebenfalls im dritten Kapitel «Ein unpolitischer Preis für politische Menschen?» offengelegt. Sie führt dazu, dass Menschen geehrt werden können, die umstrittene politische Ansichten vertreten. Stichwort Peter Handke und das vierte Kapitel «Ich bin ein Schriftsteller». Obwohl ich nicht in Frage stellen möchte, dass Handke ein außergewöhnlicher Literat ist, wird seine Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis 2019 von seinen politischen Äußerungen in der Vergangenheit zu den Jugoslawienkriegen überschattet. Man kann von Handke literarisch halten, was man will, aber es ist zweifelsfrei belegt, dass seine Würdigung Menschen, die sich mit Grauen an diese verheerenden Kriege erinnern, Angehörige verloren, Traumata durchlebten, verletzt. Für mich ist das unverzeihlich. Ein Preis für Literatur darf kein Leid verursachen, er darf keine kaum verheilten Wunden aufreißen und er darf nicht an eine Person vergeben werden, die genau das auslösen könnte. Es ist schlimm genug, dass solche Literatur geschrieben wird. Man muss sie nicht auch noch mit einem Preis krönen und ihr dadurch überschäumende Aufmerksamkeit schenken. Ich verfolge hier eine glasklare Nulltoleranzeinstellung.

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Meine Ohren klingeln, während ich diese Worte schreibe. Ich weiß genau, wie die Gegenargumente lauten könnten. An wen darf man dann überhaupt noch den Literaturnobelpreis verleihen, wenn internationale Befindlichkeiten berücksichtigt werden sollen? Wer hat keinen Dreck am Stecken? Über wen würde sich die Öffentlichkeit nicht aufregen? Ich ahne auch, dass diese Voraussetzung den Kandidatenkreis erheblich ausdünnen könnte und es für die Schwedische Akademie zu einer Mammutaufgabe mutieren würde, die Biografie jedes oder jeder Nominierten bis in den letzten Winkel zu durchleuchten. Kann man ihnen das zumuten? Meine Antwort: kann man, muss man aber nicht.

All die Kritik, die ich durch meine Auseinandersetzung mit der Materie aufgedeckt habe, führt für mich zu der Schlussfolgerung, dass sich die Probleme mit der Vergabe des Literaturnobelpreises am simpelsten und konsequentesten lösen ließen, würde man die Verleihung einfach abschaffen. Ich glaube nicht, dass die Welt den Literaturnobelpreis braucht und ich denke, die strittigen Aspekte sind zu zahlreich, um sie nachhaltig zu korrigieren, weil das gesamte System dafür hinterfragt und geändert werden müsste.

Explizit bedeutet das, Nobels testamentarischer Wille müsste neubewertet, die Stellung und Statuten der Nobelstiftung überarbeitet, eine Definition von Literatur müsste formuliert werden, die eine breitere Auslegung garantiert und eine objektive Einschätzung von Kunst gewährleistet, der Nominierungsprozess müsste auf Repräsentation ausgerichtet werden, das Preisgeld müsste komplett überdacht werden, die Schwedische Akademie müsste anerkennen, dass der Literaturnobelpreis durchaus politisch gefärbt ist oder gleich ganz ihrer Pflichten enthoben werden und es müsste ein Verfahren eingeführt werden, das belastende Punkte in den Biografien der Nominierten aufdeckt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass all das tatsächlich zufriedenstellend möglich ist. Es sind zu viele Baustellen, die zu drastische Eingriffe erfordern.
Eine Abschaffung wäre natürlich ebenfalls keine leichte Aufgabe, schließlich ist der Literaturnobelpreis noch heute Alfred Nobels ausgeführter testamentarischer Wille. Dennoch glaube ich, dass dies unkomplizierter umzusetzen ist als eine vollständige Umgestaltung.

Angesichts des Einflusses, den der Literaturnobelpreis in unserer Zeit für ganz durchschnittliche Leser_innen bedeutet (und nur als solche kann ich mein Urteil abgeben), erkenne ich nicht, dass der Effekt einer Komplettsanierung den Aufwand rechtfertigt. Ich halte den Literaturnobelpreis für eine rein akademische Auszeichnung, die jeglichen Kontakt zur Gesamtheit der Leserschaft schon lange verlor, falls dieser denn je bestand. Normale Leser_innen kommen prima ohne eine Prämierung einer verschwindend geringen Anzahl von Büchern und Schriftsteller_innen durch die Schwedische Akademie zurecht. Das Risiko, dass dieser akademische, fehler- und missbrauchsanfällige Preis, der sich in meiner Lektüreauswahl ohnehin nicht bemerkbar macht, Menschen verletzt, schätze ich als zu groß ein, um auf dessen Fortbestehen zu beharren.

Literatur muss geschrieben werden. Literatur muss gelesen werden. Literatur muss auch analysiert und bewertet werden. Literatur muss nicht mit Preisen ausgezeichnet werden. Es braucht keinen Preis, um literarische Qualität zu identifizieren, kein offizielles Gütesiegel. Leser_innen wie wir brauchen keine Expert_innen, die uns sagen, was wertvoll ist. Unsere Emotionen beim Lesen sagen uns, was wertvoll ist. Schafft den Literaturnobelpreis ab. Lasst Kunst doch einfach Kunst sein.

Alles Liebe,
Elli ❤️

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