Eine Lektion fürs Leben

Erfahrungsbericht zum Reread von „Harry Potter und Die Kammer des Schreckens“

Mit „Harry Potter und Die Kammer des Schreckens“ habe ich zum ersten Mal erlebt, was es bedeutet, auf eine Fortsetzung warten zu müssen und dabei auf heißen Kohlen der Ungeduld zu sitzen. Es war schrecklich. Einigen von euch erging es garantiert genauso – vielleicht erinnert ihr euch ebenfalls an das Gefühl, laut schreien und mit dem Fuß aufstampfen zu wollen, weil ES. BIS. ZUR. VERÖFFENTLICHUNG. NOCH. SO. LANG. HIN. IST.

Ich war von Hause aus ein ungeduldiges Kind, Warten fiel mir generell unheimlich schwer. Wenn ich etwas haben wollte, dann am besten gestern. Meine Eltern versuchten natürlich, dieser Impulsivität entgegen zu wirken und mir beizubringen, dass man im Leben nicht immer alles bekommt, was man sich wünscht und erst recht nicht sofort. Sie wollten mir vermitteln, dass Vorfreude schön sein kann, weil sie die Freude, hält man das heiß herbeigesehnte Objekt dann in den Händen, ins Unermessliche steigert. Sie haben sich wirklich angestrengt. Lange trugen ihre Bemühungen keine Früchte; ich war lange nicht in der Lage, Ungeduld in Vorfreude zu verwandeln und diese zu genießen. Ich war sogar oft wütend, weil ich es ungerecht und gemein fand, dass sie meinen Wünschen nicht einfach nachgeben konnten und teilweise von mir verlangten, dass ich für bestimmte Gegenstände mein Taschengeld sparen und sie mir selbst kaufen sollte.

Beim zweiten Band der „Harry Potter“ – Reihe lagen die Dinge zum ersten Mal anders. Im Alter von 9 Jahren musste ich einsehen, dass es Dinge gibt, auf die man eben warten muss. „Die Kammer des Schreckens“ war der erste Wunsch, den meine Eltern mir nicht mal theoretisch sofort erfüllen konnten, weil dieses Objekt meiner Begierde schlicht noch nicht existierte. So frustrierend diese Erfahrung damals für mich war, ich glaube heute, dass sie eine wichtige Lektion darstellte. Ich bin überzeugt, ich hätte sehr viel länger gebraucht, um zu verstehen, dass meine Eltern nicht auf alles Einfluss haben, wäre die Warterei auf „Die Kammer des Schreckens“ nicht gewesen. Natürlich war ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Lage, den größeren Zusammenhang zu erkennen. Mir war selbstverständlich nicht klar, dass Mama und Papa stets versucht hatten, mich auf genauso einen Fall vorzubereiten und mir meine Wünsche deshalb in regelmäßigen Abständen verwehrten. Heute verstehe ich das. Ich glaube, es war gut, dass ich erleben musste, wie es sich anfühlt, wenn man etwas unbedingt haben möchte und darauf warten muss. Eine Lektion fürs Leben.

„Die Kammer des Schreckens“ erschien im März 1999 auf dem deutschen Markt. Mit 9 Jahren habe ich Erscheinungsdaten von Büchern natürlich noch nicht im Kopf behalten; ich war noch nicht alt genug, um mir monatelang zu merken, wann genau ein Buch veröffentlicht wird. Dementsprechend muss es meine Mutter gewesen sein, die mir sagte, dass es nun endlich soweit wäre. Ich erinnere mich nur dunkel daran.

Ich weiß hingegen noch ganz genau, dass wir im Wohnzimmer waren und ich meine Eltern anbettelte, jetzt bitte sofort aufzuspringen und das Buch zu besorgen. Sie saßen, ich stand. Ich war furchtbar aufgeregt und konnte meine Energie kaum zügeln, habe herumgehampelt. Meine Eltern blieben ganz ruhig und nutzen den günstigen Moment, um mich wieder einmal zur Selbstständigkeit zu erziehen. Sie sagten (im Wortlaut): „Wenn du das Buch so dringend haben möchtest, dann geh selbst los und kauf es. Wir geben dir das Geld, aber du musst selbst zum Buchladen gehen“. Ich erinnere mich, dass ich damit nicht uneingeschränkt glücklich war, ich wollte eigentlich nicht selbst losgehen. Ich wollte, dass „Die Kammer des Schreckens“ wie durch Geisterhand in meinen Besitz überging, ohne dass ich Aufwand damit hätte. Die Gier nach dem Buch war allerdings stärker als mein Unwille.

Damals lebten wir am Rande Berlins, in einem Wohngebiet nahe an einer großen Hauptstraße. In den unteren Etagen der Häuser befanden sich Ladenzeilen und die nächste kleine Buchhandlung war bloß ein paar 100 Meter die Straße runter. Ich ließ mir erklären, was ich der Buchhändlerin sagen müsste, das Geld in die Hand drücken und raste los. Ja, ich bin wirklich gerannt. Würde ich heute auch nicht mehr machen. :D

Ich kam in der Buchhandlung an und erklärte der (sehr lieben) Verkäuferin atemlos, was ich haben wollte. Dummerweise hatte sie „Die Kammer des Schreckens“ nicht vorrätig. Skandal! Das Buch musste bestellt werden, was meine sowieso schon überbordende Ungeduld auf eine harte Probe stellte. Noch länger warten. Ich war wütend. Meine Eltern versuchten, mich zu beruhigen, indem sie mir sagten, auf den einen Tag käme es nach all den Monaten nun auch nicht mehr an, doch sie stießen auf taube Ohren. Natürlich kam es auf den einen Tag an. Ich war erst glücklich, als ich „Die Kammer des Schreckens“ endlich in den Händen hielt und Seite um Seite verschlingen konnte. So begann meine Geschichte mit dem zweiten Band der „Harry Potter“ – Reihe.

Rowling Joanne K. Harry Potter und Die Kammer des Schreckens Harry Potter

17 Jahre später wurde es Zeit für einen Reread, den ich, wie ihr mittlerweile wissen dürftet, mit Marina aka DarkFairy durchziehe. Nachdem ich während der Lektüre des ersten Bandes (den Erfahrungsbericht dazu findet ihr HIER) überraschenderweise feststellen konnte, dass viele Bilder meiner kindlichen Vorstellungskraft die Jahre und die Verfilmungen überlebt haben, freute ich mich umso mehr auf „Die Kammer des Schreckens“.

Ich hatte ganz vergessen, dass das Buch mit einem eleganten Rückblick auf die bisherigen Ereignisse beginnt. Ich hätte das selbstverständlich nicht gebraucht, aber man darf eben nicht außer Acht lassen, dass die Bücher für Kinder geschrieben sind und zwischen dem Erscheinen des ersten und zweiten Bandes in England etwa ein Jahr lag. Eine ziemlich lange Zeit für das Gedächtnis kleiner Menschen.

Ich muss gestehen, dass ich mich an die Handlung von „Die Kammer des Schreckens“ eher schwammig erinnerte. Der grobe Verlauf war mir durchaus noch gegenwärtig, doch einige Details waren mir entfallen. Ich brachte Kleinigkeiten durcheinander, die sich aus den Folgebänden in meinem Kopf verankert hatten. Beispielsweise erinnerte ich mich lebhaft an Dobbys Besuch in Harrys Zimmer bei den Dursleys, aber ich dachte, dass diese grauenvollen Muggel erst später erfahren, dass Harry in den Ferien nicht zaubern darf. Ich wusste, dass Harry und Ron den Hogwartsexpress verpassen, aber ich wusste nicht mehr, wieso. Mir war bewusst, dass Harry die Kammer des Schreckens allein betritt, doch wo Ron zu diesem Zeitpunkt ist und warum er ihn nicht begleiten kann, hatte ich vergessen. Viele Kausalzusammenhänge sind über die Jahre in meinem Gedächtnis verblasst; es war wundervoll, diese erneut zu entdecken.

Ebenso sehr habe ich es genossen, meine kindlichen Gefühle noch einmal zu durchleben, wenn auch mit etwas Distanz. Dobbys erster Auftritt brachte mich zum Schmunzeln, weil ich mich daran erinnerte, dass ich als 9-Jährige regelrecht entrüstet und empört war, dass Dobby die Briefe von Harrys Freunden abfing. Ich fand das damals so… GEMEIN und ich wusste ja noch nicht, dass Dobby es eigentlich nur gut meint. Heute, als Erwachsene, fand ich Dobbys Taktik vor allem unlogisch, denn ein paar nicht erhaltene Briefe könnten einen Jungen wie Harry, der in der Welt der Muggel dermaßen unglücklich ist, niemals davon abhalten, nach Hogwarts zurückzukehren. Nun ist Dobby aber generell nicht gerade eine Ausgeburt an Logik und Rationalität, weshalb ich ihm letztendlich stets verzeihen konnte und kann. Selbst das Ding mit dem verhexten Klatscher, womit er Harry ernsthaft in Gefahr brachte, entstand ja aus purer Verzweiflung. Damals wie heute berührte die Vorstellung eines weinenden Dobby an Harrys Krankenbett mein Herz.

In dieser Szene bedeutete es mir besonders viel, dass mein Bild von Dobby die Jahre überstand. Ähnlich wie bei Hagrid entsprach meine Vorstellung des Hauselfen nie ganz der Beschreibung im Buch und demzufolge auch nicht seiner Darstellung in den Filmen. Ich habe mir Dobby immer als knubbelig ausgemalt. Grüne Haut, ein rundes Gesicht mit seitlich abstehenden Fledermausohren, ein runder Bauch, darunter die übergroßen Patschefüße, dazu aber lange, schmale Finger (wie die eines Pianisten). Über Dobbys Augen schreibt J.K. Rowling, dass sie tennisballgroß sind – nun ja, ich war eben ein Kind und Tennisbälle sind gelb, also erhielten seine Augen von meiner Fantasie eine gelbliche Farbe (Aber nicht das knallige Gelb echter Tennisbälle!). Ich musste mich ein wenig anstrengen, um dieses zugegebenermaßen inkorrekte Bild beim Lesen vor die Filmversion zu schieben, aber es hat geklappt. Ich wollte Dobby unbedingt so sehen, wie ich ihn als Kind sah.

Intensive Erinnerungen weckte auch das Auftauchen des berüchtigten Spinners Gilderoy Lockhart. Mein 9-jähriges Ich konnte ihn selbstverständlich nicht ausstehen. J.K. Rowling gab sich schließlich große Mühe, ihn so zu charakterisieren, dass selbst Kinder begreifen, dass der Mann ein Aufschneider ist. Deswegen empfand ich es damals als furchtbar peinlich und unangenehm, dass sowohl Mrs. Weasley als auch Hermine für ihn schwärmen. Das ganze Mädchen-Jungs-Ding war mir ja noch völlig suspekt und Küsse waren eklig. Ich verstand nicht, wie die beiden auf Lockhart hereinfallen konnten und durchlebte einige Fremdschäm-Momente.

Heute frage ich mich vor allem, wieso Dumbledore Lockhart überhaupt als Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste beschäftigte. Albus Dumbledore hält man nicht zum Narren. Er muss gewusst haben, dass Lockhart nicht das ist, was er zu sein vorgibt. Ich möchte daran glauben, dass Dumbledore irgendetwas mit ihm vorhatte, das sich durch die Ereignisse in der Kammer des Schreckens erübrigte. Vielleicht plante er von Beginn an, ihn zu demaskieren. Andernfalls ergibt seine Anstellung für mich einfach keinen Sinn, denn Dumbledore ist viel zu clever, um sich von einer guten Show und ein paar Vergessenszaubern täuschen zu lassen.

Apropos Täuschung: Tom Riddles Tagebuch löste bei mir sehr gemischte Gefühle aus. Ich konnte nicht aufhören, daran zu denken, dass es sich dabei um einen Horkrux, also um ein Stück von Voldemorts Seele handelt. Brrr. Gruselig. Weder Harry noch Dumbledore ist das zu diesem Zeitpunkt klar, aber es wäre wirklich das Beste gewesen, hätten sie die Zähne des toten Basilisken aus der Kammer geborgen. Das hätte ihnen später einigen Ärger erspart.

Betrachte ich alle Zusammenhänge, Implikationen und Konsequenzen hinsichtlich dieses unscheinbaren Buches, packt mich das Entsetzen, wenn ich an Lucius Malfoy denke. Er wird gewusst haben, was sein Meister ihm zur Aufbewahrung überließ. Ich bin überzeugt, er wusste, dass das Tagebuch ein Horkrux ist. Voldemort mag alle weiteren Seelengefäße versteckt und verschwiegen haben, aber über dieses eine muss er Malfoy informiert haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Tagebuch zufällig in seinen Besitz gelangte. Er plante, es irgendwann einzusetzen. Wir wissen ja, dass er es Ginny absichtlich zuspielte – demzufolge war ihm völlig bewusst, welcher Gefahr er sie aussetzte.

Ich finde es schockierend, dass Mr. Malfoy keinerlei Skrupel hatte, einem kleinen Mädchen ein Stück der Seele des mächtigsten dunklen Magiers aller Zeiten aufzudrängen. Lasst euch das auf der Zunge zergehen. Er wollte sie opfern, um seinen Meister zurück ins Leben zu holen. Das war nicht der Ausdruck seiner Abneigung den (reinblütigen!) Weasleys gegenüber, es war pure, eiskalte Berechnung. Ich wusste natürlich bereits mit 9 Jahren, dass die ganze Sippe der Malfoys verdorben ist, aber das wahre Ausmaß ihrer Bösartigkeit ist mir erst jetzt bewusstgeworden. Den Tod einer unschuldigen 11-Jährigen in Kauf zu nehmen … Widerlich. Abstoßend.

Angesichts dieser für mich recht späten Offenbarung bin ich sehr gespannt, welche Entdeckungen in den nächsten Bänden auf mich warten. Obwohl dies nicht mein erster Reread ist, habe ich doch das Gefühl, die Bücher noch nie so intensiv und bewusst gelesen zu haben wie jetzt. Ich genieße die Erfahrung, jedes noch so kleine Ereignis in ein größeres Verhältnis setzen zu können, weil ich die Geschichte bereits kenne und dadurch verstärkt auf die Details achten kann.

Auf die Lektüre des dritten Bandes „Harry Potter und Der Gefangene von Askaban“ freue ich mich ganz besonders, denn seit jeher ist er mein Lieblingsband. Ich werde ganz aufgeregt, denke ich an die Heulende Hütte, Professor Lupin, Hogsmeade, Butterbier und die Karte des Rumtreibers. Fast so aufgeregt wie damals mit 10 Jahren, als er gerade erschienen war.

Weitere Erfahrungsberichte vom „Harry Potter“-Reread

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