Das tiefe Luftholen vor dem fulminanten Finale

Erfahrungsbericht zum Reread von „Harry Potter und Der Halbblutprinz“

Erfahrungsbericht zum Reread von „Harry Potter und Der Halbblutprinz“

„Harry Potter und Der Halbblutprinz“ erschien am 01. Oktober 2005 auf dem deutschen Markt. Ich war damals 16 Jahre alt. Erstmals in der Geschichte der Reihe war ich genauso alt wie Harry. Heute erscheint mir diese Tatsache unheimlich bedeutsam. Es kommt mir vor, als hätte ich bei meiner ersten Lektüre des sechsten Bandes eine besondere Verbindung zu unserem Helden spüren müssen, weil wir uns das erste Mal auf Augenhöhe begegneten. Als hätte zwischen uns ein automatisches, tiefes Verständnis existieren müssen, weil wir Altersgenossen waren.

Paradoxerweise habe ich das mit 16 nicht so empfunden. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich viel darüber nachgedacht hätte, dass Harry und ich gleich alt waren. Ich war ein Teenager, meine Freunde waren Teenager, für mich war es vollkommen normal, dass jemand in meinem Alter war, sogar eine Buchfigur. Ich glaube, ich habe damals einfach nicht erfasst, was es bedeutete, dass ich Harry eingeholt hatte. Mir war nicht klar, dass Harry im sechsten Band auf ewig 16 sein würde, während ich niemals wieder so jung wäre. Das begreife ich erst jetzt. Erst durch mehr als 10 Jahre Abstand verstehe ich, wie besonders es war, dass wir in diesem einen kurzen, vergänglichen Moment gemeinsam 16 waren.

Ich wünschte, ich hätte es schon damals kapiert, denn dann wären meine Erinnerungen an „Der Halbblutprinz“ unter Umständen greifbarer, vollständiger und überhaupt vorhanden. In meinem Gedächtnis klafft an der Stelle, an der dieser Band seinen Platz haben sollte, ein großes graues Loch voller Nebel. Ich erinnere mich an gar nichts. Fragtet ihr mich, wie mein Leben mit 16 Jahren aussah, könnte ich euch grobe Eckdaten nennen, aber wolltet ihr wissen, wie „Der Halbblutprinz“ in meinen Besitz gelangte und wie ich mich während der ersten Lektüre fühlte, müsste ich ahnungslos mit den Schultern zucken. Ich weiß es nicht. Zumindest nicht genau.

Rowling Joanne K. Harry Potter und Der Halbblutprinz Harry Potter

Ich weiß, dass ich keinen einzigen Band der Originalreihe selbst kaufte und schlussfolgere dementsprechend, dass „Der Halbblutprinz“ ein Geschenk meiner Eltern war. Ich erinnere mich außerdem an ein diffuses Gefühl der Enttäuschung. Ich glaube, ich habe damals große Hoffnungen in den neuen Potter gesetzt, nachdem mir der Vorgänger „Der Orden des Phönix“ eher mäßig zusagte. Ich wollte erneut haarsträubende Abenteuer erleben und die düstere Episode mit der Prophezeiung hinter mir lassen. Vor diesem Hintergrund musste der sechste Band ernüchternd für mich sein, denn das Actionlevel ist viel niedriger als beispielsweise in „Der Feuerkelch“. Heutzutage würde ich ihn als das tiefe Luftholen vor dem fulminanten Finale bezeichnen. Vielleicht ist das der Grund, warum auch die Handlung lediglich bruchstückhaft hängen bliebt.

Ich weiß, dass ich keinen einzigen Band der Originalreihe selbst kaufte und schlussfolgere dementsprechend, dass „Der Halbblutprinz“ ein Geschenk meiner Eltern war. Ich erinnere mich außerdem an ein diffuses Gefühl der Enttäuschung. Ich glaube, ich habe damals große Hoffnungen in den neuen Potter gesetzt, nachdem mir der Vorgänger „Der Orden des Phönix“ eher mäßig zusagte. Ich wollte erneut haarsträubende Abenteuer erleben und die düstere Episode mit der Prophezeiung hinter mir lassen. Vor diesem Hintergrund musste der sechste Band ernüchternd für mich sein, denn das Actionlevel ist viel niedriger als beispielsweise in „Der Feuerkelch“. Heutzutage würde ich ihn als das tiefe Luftholen vor dem fulminanten Finale bezeichnen. Vielleicht ist das der Grund, warum auch die Handlung lediglich bruchstückhaft hängen bliebt.

Als Marina aka DarkFairy und ich uns „Der Halbblutprinz“ im Rahmen unserer Reread-Aktion vornahmen, prophezeite ich sofort, dass meine Kenntnis des Inhalts bei diesem Band die bisher größten Lücken aufweisen würde. Oh, selbstverständlich war mir der grobe Verlauf noch gegenwärtig und niemals könnte ich das dramatische, tränenreiche Ende vergessen, doch all die Details dazwischen schienen mehr oder weniger verschwunden zu sein.

Die ersten 100 Seiten bestätigten diesen Eindruck. Hättet ihr aus dem Steigreif gewusst, dass die Handlung des sechsten Bandes mit einem ganz besonderen Muggel beginnt? Die erste Person, die die Leser_innen zu Gesicht bekommen, ist niemand geringeres als der britische Premierminister. Joanne K. Rowling nennt zwar keine Namen, aber ich habe nachgesehen. Als das Buch 2005 erschien, hatte Tony Blair dieses Amt inne. Ich finde es witzig, mir bei allem, was in diesem ersten Kapitel geschieht, ein reales Gesicht vorstellen zu können.

Ich hoffe für Mr. Blair, dass er niemals tatsächlich Besuch vom Zaubereiminister erhalten hat, denn mir tat sein literarisches Pendant aufrichtig leid. Da will er bloß in Ruhe leben und regieren, muss sich aber mit einem Minister herumschlagen, von dessen Existenz er vor seiner Amtsübernahme nicht einmal wusste und der, wenn er sich denn blicken lässt, meist GANZ schlechte Neuigkeiten mitbringt. Nie wird ihm wirklich etwas erklärt; in seiner gesamten Amtszeit hat sich Fudge nur ein einziges Mal dazu herabgelassen, ihm konkrete Informationen zu überlassen. Das war unfair. Ich kann verstehen, dass der Herr Premierminister wütend ist und Fudge den härtesten Stuhl in seinem Büro anbietet, als er ihn dieses Mal besucht. Schließlich sind es die kleinen Dinge im Leben. 😉

Für Fudge ist der Besuch seine letzte Amtshandlung – er wurde gefeuert und von Rufus Scrimgeour ersetzt. Ich hatte das komplett vergessen. Fudge war und ist für mich bis heute der einzig wahre Zaubereiminister, derjenige, den ich mit diesem Posten assoziiere und der sich einen Platz in meinem Gedächtnis errungen hat, wenn auch nicht immer durch Kompetenz oder Weitsicht. Natürlich hat er Fehler gemacht, vor allem im fünften Band, aber grundsätzlich halte ich ihn für einen anständigen, gutherzigen Mann mit einer Neigung zu Naivität und Kopflosigkeit. Scrimgeour hingegen hat überhaupt keinen Eindruck bei mir hinterlassen. Verflixt, ich wusste ja nicht einmal mehr, dass es ihn gibt. Letztendlich scheint magische Politik jedoch genauso zu funktionieren wie Muggel-Politik: laufen die Dinge schlecht, schreit das Volk nach einem Sündenbock.

Als Sündenbock agiert auch Draco Malfoy, wovon mich der heimliche Besuch seiner Mutter beim ollen Snape überzeugte. Erinnert euch, Narzissa zwingt Snape den Unbrechbaren Schwur auf, durch den er sich verpflichtet, ihren Sohn bei seiner Mission für Voldemort zu beschützen, zu unterstützen und Dumbledore notfalls an seiner Statt zu töten. Wisst ihr, warum Draco für diesen schier unmöglichen Auftrag ausgewählt wurde, von den taktischen Vorteilen einmal abgesehen? Voldemort ist zornig auf seinen Vater, Lucius Malfoy. Das ist der Grund. Er rechnet vermutlich gar nicht damit, dass Draco Erfolg haben könnte. Er bestraft den Sohn für die Verfehlungen des Vaters.

Das ist so grausam und ungerecht, dass es mich wieder einmal zutiefst schockierte, wie weit Voldemort zu gehen bereit ist. Er besitzt wirklich kein Herz. Im Erfahrungsbericht zum Reread von „Der Feuerkelch“ schrieb ich, dass ich durch den Mord an Cedric begriffen hätte, was „böse“ zu sein in Voldmorts Fall bedeutet. Ich denke, seine skrupellose Bereitschaft, aus einem Groll heraus einen 16-Jährigen für seine Zwecke einzuspannen und dabei ganz bewusst dessen Tod in Kauf zu nehmen, erweiterte dieses Verständnis noch einmal gewaltig. Ich habe oft versucht, einen guten Kern in Voldemort zu sehen, bemühte mich, ihn objektiv zu betrachten, doch all meine Anstrengungen führten immer wieder zum gleichen Ergebnis: Voldemort ist nicht ambivalent. Er hat keine guten Eigenschaften und selbst die Wesenszüge, die positiv sein könnten (wie z.B. sein Wissensdurst und sein Ehrgeiz), verdrehte er bis zur Unkenntlichkeit ins Abscheuliche. Seine Absichten sind weder edel noch nachvollziehbar. Er strebt ausschließlich nach Macht für sich selbst und will die Welt brennen sehen, nicht mehr und nicht weniger.

Harry selbst wird dieses Jahr vom Schulleiter höchstpersönlich im Ligusterweg Nummer 4 abgeholt. Dumbledore möchte Horace Slughorn in Harrys Begleitung einen Besuch abstatten, bevor er ihn zu den Weasleys bringt. Der clevere alte Fuchs. Vorerst hat er jedoch das Vergnügen, die Dursleys zu treffen. Ihre Reaktion auf den mächtigen Zauberer ist ganz erstaunlich. Scheinbar ist seine Ausstrahlung so immens, dass nicht einmal Vernon Dursley es wagt, seiner polternden Persönlichkeit freien Lauf zu lassen. Artig sitzen alle drei Dursleys wie die Hühner auf der Stange im Wohnzimmer, während Dumbledore mit Harry Sirius‘ Nachlass bespricht.

Bei dieser Gelegenheit schenkt der Schulleiter an alle Anwesenden Madam Rosmertas besten Met aus – Harry erhält ebenfalls ein Glas. Wie cool ist das bitte? Wer kann schon von sich behaupten, den ersten Alkohol von Albus Dumbledore persönlich bekommen zu haben? Ich bin sicher, dass Harry nie zuvor Alkohol getrunken hat, obwohl auf Twitter die Frage aufgeworfen wurde, ob das allseits beliebte Butterbier Prozente hat. Ich glaube das nicht. Den Hogwartsschüler_innen wird ab dem dritten Schuljahr gestattet, Hogsmeade aufzusuchen. Zu diesem Zeitpunkt sind sie alle um die 13 Jahre alt und können das Butterbier trotzdem problemlos im Drei Besen bestellen. Ich will einfach nicht glauben, dass Joanne K. Rowling das so geschrieben hätte, würde das Getränk tatsächlich Alkohol enthalten. Sie hat schließlich selbst Kinder. Ja, ich weiß, im Wiki steht etwas anderes, aber das ist mir egal. Butterbier ist wie Kindersekt, basta. Was die heftige Reaktion der Hauselfen darauf übrigens noch putziger macht.

Dumbledore nutzt die Chance, den Dursleys höflich die Meinung zu geigen und offenbart dadurch, dass er sehr genau darüber Bescheid weiß, wie Harry all die Jahre von ihnen behandelt wurde. Ich meine mich dunkel zu erinnern, dass ich davon bei meiner ersten Lektüre arg überrascht war. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ihm Harrys exakte Lebensumstände dort bekannt waren. Es tat gut, einmal zu sehen, wie jemand mit so viel Autorität Vernon Dursley in seine Schranken weist. Ich glaube, das war für mich ebenso wichtig wie für Harry selbst.

Harry und Dumbledore machen sich kurz darauf auf den Weg, um Horace Slughorn davon zu überzeugen, erneut in Hogwarts zu unterrichten. Ich fand Slughorn immer sehr unangenehm. Er ist mir nicht vollkommen unsympathisch, aber schwer zu ertragen. Ich misstraue ihm. Ich weiß natürlich, dass mein Misstrauen eigentlich unnötig ist, doch seine seltsame Form von Egozentrik stößt mir sauer auf. Er hält gern die Fäden vieler Leben in der Hand, ist derjenige hinter den Kulissen, der seine Schäfchen in bestimmte Richtungen lenkt. Das stinkt mir alles zu sehr nach Manipulation, Opportunismus und Inszenierung. Mag sein, dass er für seine Schützlinge nur das Beste möchte und ein gutes Herz hat. Trotz dessen steht zweifellos fest, dass er Elitarismus unterstützt. Er wählt seinen kleinen Slug-Club aufgrund der Annahme von Leistungsfähigkeit aus und ignoriert diejenigen, die er als seiner Aufmerksamkeit nicht würdig erachtet, gnadenlos. Er fördert nicht all seine Schüler_innen gleichermaßen, sondern nur diejenigen, denen er ein gewisses Potential unterstellt. Das gefällt mir nicht.

Außerdem frage ich mich, was geschehen wäre, hätten die Todesser Slughorn zuerst gefunden, vor Dumbledore. Ich hatte bei ihm stets das Gefühl, dass er die dunklen Künste nicht grundsätzlich ablehnt. Seine Kenntnisse über Horkruxe beweisen das ja eindrucksvoll. Hätte Voldemort ihm ein attraktives Angebot gemacht, hätte er sich ihm dann angeschlossen? Ich kann mir gut vorstellen, dass er darauf eingegangen wäre und sei es nur, weil er ein unsäglicher Feigling ist und nicht die Courage besitzt, Voldemort die Stirn zu bieten.

Nach der Stippvisite bei Slughorn bringt Dumbledore Harry zum Fuchsbau. Dort stellt sich heraus, dass die Weasleys bald Zuwachs bekommen werden: Rons ältester Bruder Bill wird die glamouröse Fleur Delacour heiraten. Diese Neuigkeit trifft vor allem bei den weiblichen Mitgliedern der Familie auf Ablehnung. Ich habe mich köstlich amüsiert, dass Ginny Fleur hinter ihrem Rücken allen Ernstes „Schleim“ nennt. Ein passender Spitzname, obwohl ich persönlich eigentlich nie ein Problem mit Fleur hatte. In „Der Feuerkelch“ wirkt sie anfangs zwar sehr arrogant, doch dieser Eindruck korrigiert sich ja schnell. Natürlich ist Fleur etwas übertrieben dramatisch und scheint eine Schwäche für große Gesten zu haben, aber ich fand ihren positiven Charme immer sehr erfrischend.

Noch im Fuchsbau erhalten Harry, Ron und Hermine ihre ZAG-Noten. Harry glaubt natürlich, dass seine Leistungen nicht ausreichen, um weiterhin eine Karriere als Auror zu verfolgen. Hihi. Ich wusste es besser. Übrigens weiß ich gar nicht, ob Harry letztendlich tatsächlich Auror wird. Im Klappentext des neuen Bandes „Harry Potter und Das verwunschene Kind“ steht, dass er im Zaubereiministerium arbeitet, aber das kann ja alles und nichts bedeuten. Und nein, ich möchte es auch noch gar nicht wissen. Ich werde es bald herausfinden, das reicht mir. Also bitte nicht spoilern! 😉

Kurz vor Beginn des neuen Schuljahres steht wieder einmal ein Besuch in der Winkelgasse an. Bei Madam Malkins treffen Harry und seine Freunde auf Draco Malfoy in Begleitung seiner Mutter. Der alte Hass flammt auf, ein Wort gibt das andere und die Situation wäre vermutlich eskaliert, hätte sich Madam Malkin nicht an Dracos Ärmel zu schaffen gemacht. Mit einigen Zwischenstationen landet die Gruppe schließlich im buntesten Laden der gesamten Winkelgasse: Weasleys Zauberhafte Zauberscherze. Das Geschäft der Zwillinge Fred und George ist ein unverschämter Angriff knalliger Farben und zweifelhaften Humors – aber es kann niemand leugnen, dass es erfolgreich ist und die beiden sich zu passablen Geschäftsmännern entwickelt haben. Wer hätte das gedacht? Ich finde, ihr Dienst für die magische Gemeinschaft in diesen dunklen Zeiten wird völlig unterschätzt. Es ist so wichtig, gerade in Zeiten der Düsternis zu lachen. Ich bin mir sicher, dass Dumbledore ihr Treiben gutheißt. Er hatte immer etwas übrig für gute Scherze. Sogar Hermine muss anerkennen, dass die Magie ihrer Produkte wirklich außergewöhnlich ist.

Während sich alle umsehen und abgelenkt sind, beobachten Harry, Ron und Hermine, wie Draco Malfoy verstohlen am Laden vorbeihuscht, den Fängen seiner übervorsorglichen Mutter offenbar entkommen. Harry vermutet sofort, dass er etwas Diabolisches plant und beschließt, ihm zu folgen. Zu dritt quetschen sie sich unter den Tarnumhang und gehen Draco unbemerkt bis zu Borgin und Burkes in der Nokturngasse nach. Dort belauschen sie ein kryptisches Gespräch, in dem Draco andeutet, dass er irgendetwas reparieren möchte. Er droht Mr. Borgin mit Fenrir Greyback, der bekanntermaßen für Voldemort arbeitet.

Von dieser Sekunde an ist Harry besessen von dem Gedanken, herauszufinden, was Malfoy plant und zu beweisen, dass er ein Todesser geworden ist. Unglücklicherweise nimmt niemand seine Verdächtigungen ernst. Es ist tragisch, dass er von Beginn an auf der richtigen Spur ist, ihm aber niemand glaubt. Wie viel Leid hätte verhindert werden können, hätte irgendjemand auf Harry gehört. Ich denke, der Fehler im Denken der „guten“ Hexen und Zauberer liegt darin, dass sich niemand vorstellen kann, dass Voldemort einen Teenager für sich arbeiten lassen würde. Würde er eben doch. Und wieso auch nicht, aus seiner Perspektive ergibt das durchaus Sinn. Erstens ist er in einer guten Position, um Druck auf Draco auszuüben, zweitens rechnet niemand damit und drittens muss Voldemort Draco nicht erst nach Hogwarts schmuggeln. Er ist ja schon drin. Aus taktischer Sicht ist Draco folglich eine naheliegende Wahl, zumindest, wenn man so kaltblütig ist wie Voldemort. Diese Logik geht den Guten vollkommen ab, was mich auf gewisse Weise beruhigte, weil ich ebenfalls jahrelang nicht erfassen konnte, dass Voldemort einfach jedes, wirklich jedes, Mittel recht ist, solange es seine Pläne vorantreibt.

Das sechste Schuljahr in Hogwarts beginnt und von Anfang an hängt der Haussegen zwischen den Jungs und Hermine schief. Harry und Hermine diskutieren wiederholt über das Zaubertrank-Buch des mysteriösen Halbblutprinzen. Während Harry es genießt, dank den Notizen des Prinzen auf einmal ein Überflieger in Zaubertränke zu sein (Slughorn ist ganz aus dem Häuschen), ist Hermine fest überzeugt, dass diese Hilfestellungen erstens eine Art Schummeln darstellen und das Buch zweitens gefährlich ist. Ihrer Meinung nach sollte Harry es so schnell wie möglich zurückgeben.

Ich hatte immer den Eindruck, dass da eine Menge Missgunst bei Hermine mitschwingt. Sie definiert sich über ihre Intelligenz und Belesenheit, über ihre schulischen Erfolge – es passt ihr nicht, dass Harry sie in einem Fach übertrifft. Ich muss ihr allerdings zu Gute halten, dass ihr das vermutlich nichts ausmachen würde, hätte Harry seine Leistungen durch gewissenhaftes Lernen erreicht. Ich denke, sie sieht die Anmerkungen des Halbblutprinzen als einfachen, leichten Weg. Es widerspricht ihrer Auffassung, dass Harry auf diese Weise Bestnoten einsammelt, ohne hart dafür zu arbeiten. Ich verstehe das, war diesbezüglich jedoch schon immer eher auf Harrys Seite. Ich hätte das Buch auch benutzt und es keinesfalls zurückgegeben.

Die Situation zwischen Hermine und Ron ist um einiges komplizierter. Dauernd streiten sie sich, zicken und giften sich an, weil… na ja, weil sie beide ziemlich dumm sind. Und Teenager. Und weil sie nicht wissen, wie sie mit ihren Gefühlen für einander umgehen sollen. Ich hatte ganz vergessen, dass sie bereits in „Der Halbblutprinz“ um einander herumschleichen. Hermine jagt Ron einen Schwarm magisch heraufbeschworener Vögel auf den Hals und verabredet sich sogar mit dem widerlichen Cormac McLaggen für Slughorns Weihnachtsparty, um Ron eins auszuwischen, ihn wütend und eifersüchtig zu machen. Harry wundert sich darüber, wie weit Mädchen zu gehen bereit sind, nur, um Rache zu üben. Ich kann dazu nur sagen: Harry, Mädchen in diesem Alter tun ganz erstaunliche Dinge aus Rache und selbst erwachsene Frauen sind sich hin und wieder nicht zu schade, unfaire Mittel anzuwenden, um emotional auszuteilen.

Ron hingegen lässt sich auf eine fürchterlich kitschige „Beziehung“ mit Lavender Brown ein, die ich wohl absichtlich verdrängt habe. Würg. Sie nennt ihn echt „Won-Won“. Da kräuseln sich mir die Fußnägel. An Hermines Stelle wäre ich ebenfalls sauer (und angeekelt) gewesen und hätte versucht, den beiden aus dem Weg zu gehen. Mein Mitleid galt jedoch Harry. Er sitzt zwischen den Stühlen und erkennt im Gegensatz zu seinen besten Freunden recht früh, woher die Spannungen zwischen ihnen rühren. Ich denke, er ist tatsächlich erwachsener geworden.

Vielleicht ist er aber auch deshalb in der Lage, Ron und Hermines Kapriolen richtig zu deuten, weil er gezwungen ist, sich mit seinen eigenen Gefühlen auseinander zu setzen. Er entdeckt, dass er für Ginny mehr als Freundschaft empfindet. Er glaubt, dass Ron damit nicht einverstanden wäre – verständlich, wenn man bedenkt, wie er bisher auf Ginnys amouröse Aktivitäten reagierte. Ich hätte Harry seine Sorgen gern genommen und ihm versichert, dass Ron das in seinem Fall einigermaßen locker sehen wird.

Ron und Hermine vertragen sich erst wieder, nachdem Ron beinahe an dem vergifteten Met in Slughorns Büro gestorben wäre. Das ist bereits der zweite Angriff auf einen Schüler bzw. eine Schülerin. Zuvor wurde Katie Bell mit einem schweren, potentiell tödlichen Fluch belegt, als sie ihrer Freundin eine geheimnisvolle Halskette abnehmen wollte. Ich erinnerte mich, dass die Anschläge eigentlich Dumbledore treffen sollten, war mir aber nicht mehr sicher, ob beide auf Dracos Kappe gingen. Mittlerweile weiß ich natürlich wieder, dass er tatsächlich sowohl für die Halskette als auch für den Met verantwortlich war.

Ich habe mich immer gefragt, wie die Halskette Dumbledore eigentlich erreichen sollte. Durch die verschärften Sicherheitsvorkehrungen in Hogwarts hätte das Ding sofort die Detektoren im Eingangsbereich ausgelöst, aber das ist ja schließlich keine Garantie, dass die Kette auch zum vielbeschäftigten Schulleiter gebracht worden wäre. Bei dem Met wiederum hätte Draco klar sein müssen, dass Slughorn das Zeug eher selbst trinkt, als die Flasche zu verschenken. Der Mann sieht sicher nicht grundlos wie ein Walross aus. Schlechte Pläne, alle beide. Wir lernen: Draco Malfoy taugt nicht zum Attentäter.

Obwohl ihm niemand glaubt, verdächtigt Harry Draco weiterhin und sieht auch in den beiden Angriffen seine Handschrift. Ich finde es ziemlich beeindruckend, wie stark sein Vertrauen in seine Intuition ist. Alle um ihn herum behaupten das Gegenteil und versuchen wiederholt, seine Argumente zu entkräften, doch Harry bleibt bei seiner Meinung. Er lässt sich nicht verunsichern. In seinem Alter ist das ungewöhnlich und zeugt von einer bemerkenswerten Willensstärke. Schade nur, dass ihm das nicht hilft, herauszufinden, warum Draco ständig von der Karte des Rumtreibers verschwindet. Meiner Meinung nach hätte er darauf sofort kommen können und müssen. Er war selbst oft genug im Raum der Wünsche, um zu wissen, welchen Effekt er auf die Darstellung der Karte hat. Ich fand es frustrierend, dass er sich mit diesem Rätsel dermaßen schwertut. Er stellt sich dumm an.

Trotz der Schwierigkeiten zwischen Harry, Ron und Hermine und Harrys Jagd nach Hinweisen darauf, was Draco plant, ist das sechste Schuljahr in Hogwarts eigentlich ganz normal. Unterricht, Quidditch, Besuche in Hogsmeade und bei Hagrid, Hausaufgaben in besorgniserregendem Umfang – die magische Welt mag durch Voldemorts Rückkehr in Angst und Schrecken versetzt sein, aber das Leben geht weiter. Kurz vor dem Finale erleben die Leser_innen noch einmal ein Jahr, in dem Voldemort gar nicht persönlich in Erscheinung tritt.

Das bedeutet jedoch nicht, dass er nicht präsent wäre. Nein, er spielt auch in „Der Halbblutprinz“ eine wichtige Rolle in Harrys Leben, weil Harry Einzelstunden bei Dumbledore erhält, die einzig und allein dem Zweck dienen, Voldemorts Motive und Schwachstellen aufzudecken. Ich empfand diesen Einzelunterricht als spannendsten Part der Handlung, nicht nur, da er die übergeordnete Geschichte vorantreibt, sondern auch, weil ich es faszinierend fand, in der Vergangenheit des mächtigsten schwarzen Zauberers aller Zeiten zu forschen.

Es ist erstaunlich, wie früh sich abzeichnete, dass mit dem jungen Tom Riddle etwas nicht stimmte. Die Anzeichen waren von Anfang an da: grausame Gewalt gegenüber Tieren, das völlige Fehlen von Empathie, übersteigertes Selbstwertgefühl, manipulativ-betrügerisches Verhalten, häufiges Lügen, oberflächliche Beziehungen, überdurchschnittliche Intelligenz, einnehmender Charme, kein Schuldbewusstsein. Die Krimi-/Thriller-Leser_innen unter euch können dieses Persönlichkeitsprofil sicher problemlos einordnen. Voldemort ist ein Psychopath aus dem Bilderbuch, im klinischen, diagnostischen Sinne des Begriffs. Seltsam, dass er niemals als solcher betitelt wird.

Psychopathie ist eine Krankheit, ein neurobiologischer Defekt, der mit Dysfunktionen und Fehlregulationen in Hirn und Hormonhaushalt einhergehen. In der Realität ist umstritten, ob Psychopathen überhaupt effektiv therapiert werden können. Da fragt man sich doch, welche Möglichkeiten der Behandlung es in Rowlings magischer Welt gibt. Gibt es überhaupt eine Einrichtung, die sich um psychisch kranke Hexen und Zauberer kümmert? Landen die alle in Askaban oder hat das St. Mungo eine psychiatrische Abteilung? Natürlich konnte Rowling auf diese Frage nicht eingehen, doch es muss irgendeine entsprechende Anlaufstelle geben. Schließlich ist es offensichtlich wahnsinnig gefährlich, psychisch oder emotional instabile Menschen mit magischem Talent frei rumlaufen zu lassen.

Innerhalb dieser Einzelstunden erhält Harry von Dumbledore den Auftrag, Slughorn die wahre Erinnerung daran, wie er Tom Riddle von den Horkruxen erzählte, abzuschwatzen. Mit der Unterstützung des wundervollen Zaubertranks Felix Felicis gelingt ihm diese Herausforderung tatsächlich. Gemeinsam erleben Harry und Dumbledore die Geburtsstunde von Voldemorts Plan, seine Seele sieben Mal aufzuspalten, um der Unsterblichkeit so nahe zu kommen, wie nie jemand zuvor. Danach besprechen sie selbstverständlich, was sie gesehen haben. Innerhalb eines Wimpernschlags zerstörte Dumbledore mit wenigen kurzen Sätzen meine ganze schöne Theorie zu den Todessern und den Horkruxen. Puff. Weg.

Er glaubt nicht, dass die Todesser von Voldemorts Absichten wussten, geschweige denn, in seine Bemühungen eingeweiht waren. Nicht einmal ein bisschen. Selbst Lucius Malfoy war laut Dumbledore nicht klar, was er tat, als er Ginny Tom Riddles Tagebuch zusteckte; er dachte, damit lediglich ein Mittel in den Händen zu halten, um die Kammer des Schreckens erneut öffnen zu können. Tja. Dumbledore ist sehr viel älter, weiser und klüger als ich. Er kennt Voldemort so gut wie niemand sonst. Ich muss mich seinen Worten wohl beugen. Ich muss ihm glauben, wenn er behauptet, der dunkle Lord habe sein größtes, unheimlichstes Geheimnis stets für sich behalten.

Eine siebenfach aufgespaltene Seele. Verstümmelt, zerstückelt. Marina erwähnte, dass es sie erschreckte, wie wenig menschlich Voldemort dadurch noch ist. Er gab den wesentlichen Teil menschlichen Lebens, das, was uns im Inneren ausmacht, auf, um sein Leben unendlich zu verlängern. Ist ein Leben mit zerstörter Seele überhaupt noch ein Leben? Es ist gleichermaßen interessant wie paradox, dass er die Horkruxe nicht erschuf, weil er das Leben schätzt, sondern weil er meiner Ansicht nach einerseits furchtbar zornig auf den Tod ist, da er ihm seine Familie nahm und andererseits auch panische Angst vor ihm hat. Seine Beziehung zum Tod ist intensiver als seine Beziehung zum Leben.

Ich denke, sein Mangel an Menschlichkeit und seine Nähe zum Tod sind dafür verantwortlich, dass ich nicht fähig bin, eine Bindung zu ihm aufzubauen, die ein starkes Gefühl wie Hass erlauben würde. Ich kann Voldemort fürchten, aber nicht hassen. Er ist eine Figur aus einem Albtraum, ein abgrundtief böser Schrecken – ich scheine das auf irgendeiner Ebene meines Ichs akzeptiert zu haben und kann daher jede seiner Handlungen und Entscheidungen aus seiner Perspektive nachvollziehen. Das macht sie nicht weniger abscheulich, aber ich erwarte von ihm eben nichts anderes als Bösartigkeiten der übelsten Sorte. Ich erwarte nicht, dass Voldemort zwischen Richtig und Falsch unterscheidet, weil ich weiß, dass er aufgrund eines neurobiologischen Defekts nicht in der Lage ist, diese Unterscheidung vorzunehmen. Es ist ihm egal.

Er spielt nichts vor und verstellt sich nicht, im Gegensatz zu beispielsweise Umbridge, die stets behauptete, ihr läge das Wohl der magischen Welt am Herzen, in Wahrheit aber rassistisch, grausam, gemein und ungerecht ist. Ich kann mit ehrlicher Bösartigkeit offenbar besser umgehen als mit Bösartigkeit unter dem Deckmantel des Allgemeinwohls. Voldemort ist auf so umfassende Weise fehlgeleitet, dass ich ihn – ähnlich wie Dumbledore – sogar etwas bedauern kann. Ich verstehe, dass er durch eine verhängnisvolle Mischung aus psychischer Erkrankung und negativen Erfahrungen zu dem wurde, der er ist. Umbridges Überzeugungen hingegen erschienen mir immer wahllos, unbegründet und willkürlich. Daher kann ich sie leidenschaftlich hassen, Voldemort jedoch nicht.

Nichtsdestotrotz ist Voldemort der ultimative Bösewicht, der Endgegner, vor dem alle zittern. Ist euch eigentlich klar, was für eine Leistung die Konstruktion so eines Charakters ist, bedenkt man, dass Voldemort niemals stereotyp wirkt? Joanne K. Rowling verdient in dieser Hinsicht mehr als nur ein wenig Respekt, denn sie hat einen Erzfeind erschaffen, der immer wieder überrascht und absolut unberechenbar agiert. Obwohl seine Persönlichkeit notwendigerweise einseitig ist und ich ja bereits festgestellt habe, dass er keinerlei Ambivalenz aufweist, wirkt seine Figur rund und glaubhaft. Ja, er strebt die Weltherrschaft an, doch dieses Ziel erscheint mir mittlerweile oberflächlich und beiläufig. Voldemort ist einfach überzeugt, dass es als mächtigster dunkler Zauberer aller Zeiten sein gutes Recht ist, zu herrschen. Es ist eine Folge seiner Persönlichkeit.

Sein wahres Ziel, die Motivation, die ihn antreibt, ist, den Tod zu besiegen. Die Horkruxe und die Arbeit mit Inferi waren vermutlich nur die erste Stufe. Wer weiß, was er sich noch ausgedacht hätte auf seinem privaten Kreuzzug. Eine Welt, in der niemand mehr stirbt? Eine Welt, in der alle außer ihm tot sind und er die Menschen lenken kann wie Marionetten? Wie auch immer seine Pläne aussahen, ich bin fest überzeugt, Voldemort hätte sich niemals mit der Schreckensherrschaft über die magische Gesellschaft begnügt. Glücklicherweise wird er aufgehalten, weil Harry und Dumbledore gerade noch rechtzeitig seine größte Schwachstelle enthüllen.

Dumbledore erklärt Harry, dass er vermutet, dass Voldemort für seine Horkruxe bedeutsame Gegenstände auswählte, die eine direkte Verbindung mit Hogwarts haben oder seine Abstammung von Salazar Slytherin betonen. Er verspricht ihm, sollte er einen weiteren Horkrux finden, würde Harry ihn begleiten dürfen, um diesen zu bergen. Ich hatte beim Lesen dieser Stelle bereits ein mieses Gefühl. Es war, als würden dunkle, bedrohliche Wolken am Horizont aufziehen.

Ein paar Tage später wird Harry erneut in Dumbledores Büro bestellt. Der Schulleiter löst sein Versprechen ein: er konnte einen Horkrux ausfindig machen und lädt Harry nun ein, ihn zu begleiten. Ab diesem Moment wurde die Lektüre für mich extrem schwierig. Ich wusste, was kommt. Ich wusste, dass Dumbledore diese Nacht nicht überleben würde. Ich fürchtete mich davor, umzublättern. Ich wollte nicht weiterlesen, weil mir nur allzu bewusst war, dass Dumbledore durch die gefährliche, Opfer verlangende Bergung des Horkrux (des Medaillons) zu geschwächt sein würde, um sich gegen Draco, die Todesser und Snape zur Wehr setzen zu können. Ich wünschte, ich hätte eingreifen und Harry und Dumbledore davor bewahren können, bei ihrer Rückkehr mitten in eine Falle hineinzulaufen. Ich wollte schreien, um mich schlagen und Dumbledore höchstpersönlich vom Besen zerren. Ich hätte ihn K.O. geschlagen, wenn ihn das davon abgehalten hätte, auf der Spitze des Astronomieturms seinem Schicksal zu begegnen.

Ohnmächtig und hilflos musste ich zusehen, wie Dumbledore Draco entlockte, wie er diese Falle organisieren konnte. Beinahe hätte er es geschafft. Draco hätte ihn nicht getötet, er hatte nicht das Zeug dazu. Vielleicht wäre Dumbledore sogar entkommen, wäre Snape nicht aufgetaucht. Die Todesser wagten es nicht, Dumbledore anzugreifen, da Voldemort den eindeutigen Befehl gegeben hatte, dass dieser spezielle Mord Dracos Aufgabe sein sollte. Snape war der einzige, der sich dieser Anordnung widersetzen konnte und musste, da er Narzissa Malfoy gegenüber den Unbrechbaren Schwur leistete. Wie gern hätte ich mir die Augen zugehalten. Was hätte ich dafür gegeben, Dumbledore nicht flehen sehen zu müssen. Es nützte alles nichts. Albus Dumbledore wurde von Severus Snape, dem er vermutlich mehr Vertrauen schenke als irgendjemandem sonst, ermordet.

Ich hasse diese Stelle. Ich hasse es, mich daran zu erinnern, wie sehr ich damals bei meiner ersten Lektüre vergeblich auf einen Irrtum hoffte. Ich hasse es, dass ein Teil von mir diese Hoffnung nie aufgegeben hat und ich auch heute noch verzweifelt daran glauben wollte, dass Dumbledore nicht wirklich tot ist. Es brach mir das Herz. All die Jahre erschien Dumbledore unbesiegbar, nahezu allmächtig. Wie sollte ich verstehen, dass er nun nicht mehr da sein würde? Wie sollte sich die Welt weiterdrehen können?

Mir war, als könnte ich das Klagelied des Phönix Fawkes auch in meinem Inneren spüren, als schlinge es sich um meine verwundete Seele und erlaubte mir, meine Trauer zuzulassen. Ich habe schrecklich geweint. Ja, ich bin 27 Jahre alt und heule noch immer wie ein Schlosshund über den Tod einer fiktiven Figur. Ich konnte nicht aufhören. Immer neue Tränen liefen mir über die Wangen. Wisst ihr, was mich richtig zerstörte? Hagrid. Hagrids Trauer berührte mich auf eine Weise, die ich kaum für möglich gehalten hätte. Er lässt seinen Gefühlen freien Lauf, schämt sich ihrer nicht, bemüht sich nicht, stark zu erscheinen. Er trauert mit allem, was er hat und was er ist. Er weint ohne Scheu um den wahrscheinlich größten Mann, den die magische Welt je gesehen hat. Er spiegelte meine Empfindungen. Es war furchtbar. Und doch wunderschön.

So tränenreich und gefühlsmarternd Dumbledores Tod war, Marina und ich sind uns einig, dass der mächtige Zauberer sterben musste. Für die Geschichte. Wir haben beide viel Zeit darauf verwendet, zu entschlüsseln, warum Dumbledore nicht an Harrys Seite bleiben konnte und sind zu unterschiedlichen, aber gut zu vereinbarenden Ergebnissen gekommen. Marina ist überzeugt, dass Dumbledore sterben musste, weil Harry auf sich gestellt sein und erwachsen werden musste. Es wäre zu einfach gewesen, hätte er im Finale weiterhin Unterstützung eines weisen und mächtigen Beraters erhalten. Ich stimme ihr zu, gehe in meinem Erklärungsansatz jedoch noch einen Schritt weiter.

Meiner Meinung nach dient Dumbledores Tod nicht nur dazu, Harry zu zwingen, sich Voldemort allein zu stellen, nein, sein Tod macht die Ereignisse des finalen Bandes überhaupt erst möglich. Harry musste aus Hogwarts raus. Hätte Dumbledore überlebt, hätte er die Schule niemals verlassen. Gemeinsam hätten sie weiter wie bisher nach den Horkruxen gesucht; Dumbledore hätte weiterhin den Großteil des Risikos übernommen und Harry nur in Ausnahmefällen auf Außeneinsatze mitgenommen. Auf diese Weise wäre Harry nicht auf den endgültigen Kampf gegen Voldemort vorbereitet worden.

Sicher und behütet hätte er in Hogwarts gehockt, völlig ahnungslos, wie er seinen Erzfeind besiegen kann. Ich glaube, es ist wichtig für den letzten Band, dass Harry sein Zuhause verlässt und sich auf eine Quest begibt, das älteste Motiv der Fantasy überhaupt. Erst diese Quest bringt ihn in eine Position, die ihn befähigt, Voldemort herauszufordern. Ohne Dumbledores Tod wäre es dazu nicht gekommen.
Diese Analyse ist im Moment natürlich nur eine Theorie. Erst die Lektüre von „Harry Potter und Die Heiligtümer des Todes“ wird sie bestätigen oder verwerfen. Ich bin gespannt.

Der Reread neigt sich dem Ende zu. Lediglich das Finale ist noch übrig. Es fühlt sich seltsam an, zu wissen, dass Harrys Geschichte bald beendet sein wird. Wieder einmal. Natürlich erwartet Marina und mich im Anschluss noch die Lektüre des neuen Bandes „Harry Potter und Das verwunschene Kind“, doch ich zähle diese Ergänzung nur halb zur Originalreihe dazu. Es ist ein Stück, es wurde nicht von Joanne K. Rowling allein geschrieben, es ist 19 Jahre später angesiedelt, es konzentriert sich meines Wissens stärker auf Harrys Sohn Albus (Albus – *schnüff*) als auf Harry selbst. Vermutlich werde ich es niemals als vollwertige Fortsetzung ansehen, die es vielleicht auch gar nicht sein soll. Aber das macht nichts. Ich freue mich trotzdem darauf, es zu lesen.

Nach „Der Halbblutprinz“ befürchte ich nun, dass ich mich nicht länger auf einen Lieblingsband festlegen kann, wenn der Reread abgeschlossen ist. Alle Bände der „Harry Potter“ – Reihe erscheinen mir jetzt ebenbürtig wertvoll und wichtig für die Geschichte, obwohl ich den Eindruck gewonnen habe, dass Joanne K. Rowling erst nach dem dritten Band „Der Gefangene von Askaban“ eine Vorstellung davon entwickelte, welche grobe Richtung die Handlung nehmen sollte. Es musste stets auf eine finale Konfrontation zwischen Harry und Voldemort hinauslaufen, das ist klar, doch ich denke, sie erarbeitete erst mit „Der Feuerkelch“ einen Plan, wie es dazu kommen sollte. Ich habe einfach das Gefühl, seit diesem Band erhielt die Reihe zunehmend Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit. Die Ereignisse spitzten sich immer weiter zu, bis sie nun in die Tragödie des sechsten Bandes gipfelten.

Ich blicke dem Finale „Die Heiligtümer des Todes“ mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits freue ich mich darauf, Harry bei seinem letzten großen Abenteuer zu begleiten und noch einmal die Schlacht um Hogwarts mitzuerleben, Voldemort fallen und das Gute siegen zu sehen. Andererseits ist mir durchaus mulmig dabei, mich wieder vom Gefährten meiner Kindheit verabschieden zu müssen. Denn völlig unabhängig davon, ob mir „Harry Potter und Das verwunschene Kind“ gefallen wird oder nicht, der erwachsene Harry ist nicht der Harry, der all die Jahre während meiner Kindheit, meiner Jugend und meines erwachsenen Lebens für mich da war. Es wird nicht dasselbe sein. Der Abschied ist unumgänglich. Das betrübt mich, auch wenn ich weiß, dass es nur ein Abschied auf Zeit ist und es stets in meiner Macht liegt, Harry wiederzusehen, wann immer ich möchte. Vermutlich wird es mir immer schwerfallen, Harry vorübergehend ziehen zu lassen. Weil er mein Held ist.

Weitere Erfahrungsberichte vom „Harry Potter“-Reread

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